Wendeten wir uns im Gedicht „Sternenheimat“ des Exildichters Elia Abu Madi der arabischen Straße zu, indem er sagt:
„Sternenheimat ich bin hier und starre
Ich erinnere mich wer ich bin
In ferner Vergangenheit erblickte ich
Einen unbesonnenen jungen Mann
Er kletterte auf Bäume,weder Langeweile verspürt er noch Schwäche
Ihr habt eine Verteufelung
sodass die Menschen über ihn sagen,
ist zu einem Teufel geworden
Ich bin dieser Junge
dessen Welt hier war“.
Oder aber in dem Gedicht „Meine Heimat“ des palästinensischen Dichters Ibrahim Touqan:
„Meine Heimat
Glanz und Schönheit, Erhabenheit und Geziertheit Sind in deinen Hügeln
Die Jugend wird nicht ermüden Ihre Sorge ist deine Unabhängigkeit Sonst stirbt sie
Wir werden vom Tod trinken
Doch werden wir nie unserer Feinde Sklave sein
Wir wollen weder
eine ewige Demütigung noch ein miserables Lebenaber wir kehren zurück
zu unserem großartigen Ruhm“,
stellen wir uns der Frage: Welche Definition von Heimat aus den beiden Gedichten entspricht der allgemeinen Definition von Heimat für dich?.
Das Gedicht von Ibrahim Touqan entspricht vermutlich dem vorherrschenden arabischen Kollektivgedanken. Würde diese Frage in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gestellt werden, wäre es sicher dieses Gedicht gewesen.
Es genügt diese drei Buchstaben (W-T-N) vor dem Großteil der Bevölkerung der arabischen Welt zu erwähnen, um vor den Zuschauenden die geopolitischen Grenzen des sogenannten Landes erscheinen zu lassen, mit einer Flagge, einer Nationalhymne, einer nationalen Armee, Schulen, einer nationalen Regierung, einem nationalen Parlament und Politikern, die gespalten sind zwischen Patrioten, die für das Wohl und Wohl ihrer Kinder arbeiten, oder Nicht-Patrioten, die ihre Völker unterdrücken und den Reichtum des Vaterlandes plündern. Hinzu kommt das Gefühl eines kostbaren Gelübdes der Heimat willen oder die absolute Langeweile und Enttäuschung über die Heimat und ihreKonzepte.
Heimat ist eine effektive Beziehung zwischen einer Person und einem Ort, geografischer, kultureller und sozialer Natur, die angespannt und sensibel wird, sobald das Gefühl entsteht, dass ihr Verlust droht
Der Fehler liegt nicht im Gedicht, sondern in der Gefahr der Definition dieses Begriffs, dem vielfältige Definitionen zugeschrieben werden können, von denen die erste die Politisierung ist. Demnach besteht die Möglichkeit für den Landsmann/ der Landsfrau eine Definition auszuwählen, die seiner/ ihrer Wahrnehmung entspricht.
Das Verständnis des Begriffs „Heimat“ in der arabischen Welt ähnelt der einer Vorwarnung des deutschen Kulturwissenschaftlers Hermann Bausingers (1926-2021) indem er sagte: „Wer das Wort Heimat erwähnt, bewegt sich an einem ideologischen Abhang, und er muss aufpassen, dass er nicht fällt.“
Hier taucht ein untersuchungswertes Problem auf: Die meisten Länder der arabischen Welt gleichen einem Brennstofffeld, das ihre Völker im Herzen ihrer Überzeugungen getroffen hat, insbesondere ihrer jungen Dichter, die vermeintlich die Grundlagen der Ästhetik für dieses kollektive und gesellschaftliche Bewusstsein zeichnen sollen. Die Frage nach dem Aufstieg und die Beherrschung von Ideologien und der darauffolgende Zusammenbruch hat die„Heimat“ als Wert an sich zerstört.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Nachahmung westlicher Theorien, die sich basierend auf ihrer Geschichte, kulturellen Renaissance, industriellen Revolution und der Explosion der Städte auf Kosten des ländlichen Raums mit diesem Thema befassen. Im klassischen arabischen literarischen Erbe lassen sich viele Beispiele bezüglich dieses Themas finden, die Theorien in anderen Literaturen vorausgingen. Dieser Sachstand bedarf weiterer Artikel.
Entgegen westlichen anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Theorien ist es in der arabischen Tradition durchaus geläufig, dass die Beduinen keine Heimat hatten.
Hier geht es jedoch darum, die Aspekte einer Problematik der Bewohner der arabischen Welt zu beleuchten, dieweitestgehend der Problematik der Bewohner der gesamten Erde ähnelt.
Dem arabischen Leser ist die Frage zu stellen: „Ist die Heimat wahrlich die geopolitische Grenze, die Ihr Eure Heimat nennt, und Eure Generationen danach erzieht, sie mit Symbolen der Wissenschaft, der Hymne und der Armee zu lieben, und Ihr Leben lang für sie zu sorgen?“
Wenn wir uns die lexikalische Bedeutung des Wortes „Heimat“ im Arabischen ansehen, stellen wir fest, dass es in seiner Bedeutung stärker mit seinem deutschen Äquivalent Heimat verflochten ist als in anderen europäischen Sprachen wie Französisch und Englisch. Der Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Journalist Max Frisch (1911-1991) argumentierte, dass die Sprachen Französisch und Englisch nicht in der Lage seien, das Wort „Heimat“ genau zu definieren. Vermutlich geht der Kontext nicht zuletzt durch die Mehrdeutigkeit verloren, die im Zusammenhang mit der ambiguen Interpretation des Wortes „Heimat“ steht. Laut Max Frisch erweitert der Begriff „my Country“ die Heimat und verortet sie innerhalb territorialer Grenzen. Unter dem englischen Begriff „homeland“ stellt man sich Kolonien vor, während „motherland“ (Mutterland) eine leichtere Wirkung hat als der Begriff „Vaterland“ und eine Verwendung dieser Begriffe Leidenschaft und Liebe erfordert, anstatt des Gefühls von Schutz und Verteidigung. Der französische Begriff „la Patrie“ hingegen, veranlasst das sofortige Hissen der Flagge am Mast.
Im arabischen Lexikon „Lisan al-Arab“ von Ibn Manzur al-Ansari (1233-1311) finden wir die Definition des Begriffes „Heimat“ wie folgt:
Die Heimat: Das Haus, in dem du wohnst, und es ist der Lebensraum und der Ort des Menschen. Die Lebensräume der Schafe und Kühe, d.h. ihre Unterkünfte; Er verweilte an dem Ort: Er nahm es als Heimat: Man sagt jemand nahm sich das Land so und so als Ort zum Verweilen.
Im ersten modernen Wörterbuch des zwanzigsten Jahrhunderts, „The Body of Language“ des Linguisten Ahmed Reda al-Amili, das zwischen 1930 und 1948 von der Akademie für arabische Sprache in Damaskus in Auftrag gegeben wurde, finden wir Definitionen des Heimatlandes, die sich nicht von der Definition des klassischen Wörterbuchsunterscheiden:
Eine Heimat, die eine Heimat im Ort summt: Ich lebe in ihr und mache mich mit ihr vertraut. Heimat des Ortes: Nimm es als ein Zuhause, in dem man wohnt. Und die Heimat im Ort: Er wohnte und nahm sie zurHeimat. Die Heimat des Kamels als Ort:
Er nahm sie als Klima, d.h. es sind Teiche darin. Der Schaf- und Rinderhof, in dem sie untergebracht sind. Pl. Heimaten.
Aus der linguistischen Perspektive lässt sich daraus schließen, dass der Begriff „Heimat“ keine nationalpolitische Konnotation aufwies, welche erst im neunzehnten Jahrhundert Anklang fanden, als die arabischen Völker nach dem Niedergang des osmanischen Reiches und dem Eintritt westlicher politischer und kultureller Einflüsse die Frage nach ihrer Identität und ihrer politischen Zugehörigkeit stellten.
Heimat ist eine emotionale Beziehung geographischer, kultureller und sozialer Natur zwischen einem Menschen und einem Ort, die zu einem spannungsgeladenen und sensiblen Thema wird, sobald das Gefühl aufkommt, sie sei vom Verlust bedroht.
Die Heimat ist an jedem Ort: Auf den Kinderspielplätzen, in der Küche der Mutter, in den Geschichten der Großeltern, in den Cafés, in denen wir sitzen, und in den Geschäften, in denen wir täglich einkaufen. Es ist der Ort, mit dem wir uns identifizieren und dem wir uns zugehörig fühlen, in dem man seinen Dialekt mit all seinenAussprachen und Klängen spricht.
Heimat ist die Umgebung, wie es der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749- 1832) in einem seiner Vorträge über seine Vorstellung von Heimat formulierte: „Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne.“
Im Jahr 2015 bereiteten Dr. Sebastian Heine und ich ein Projekt zur Übersetzung einer libanesischen poetischen Anthologie vor, die sich mit dem Heimatbegriff junger libanesischer Dichter beschäftigt. Wir haben uns von Anfang an dafür entschieden, dem Konzept keine Richtung vorzugeben und den Titel offen zu lassen, bis die Sammlung der Gedichte von zwanzig Dichterinnen und Dichtern abgeschlossen ist.
Laut der deutschen Anthropologin Ina-Maria Greverus (1929-2017) ist „die Heimat“ eine Ausdrucksform von Kultur, die immer auch die soziale Dimension des Begriffs „Heimat“ widerspiegelt. In ihren Studien ist Greverus zu dem Entschluss gekommen, dass Menschen in ihren unterschiedlichen Kontexten ein ständiges Bedürfnis nach Sicherheitund Zufriedenheit haben. Heimat ist mit Geborgenheit, Selbstverständlichkeit und dem Versprechen auf ein besseresLeben verbunden. Jeder Mensch hat das Verlangen nach einem Zugehörigkeitsgefühl. Heimat ist der räumliche Raum, in dem der Mensch sein Leben und seinen Alltag gestaltet.
Die Texte der libanesischen Dichter drückten die Enttäuschung, Entfremdung und Verzweiflung der Dichter über die Idee der Heimat aus. Vom Vergleich der Heimat mit Schuhen über übermäßiger Langeweile bis hin zum Wunsch, die Erde sei ein Ball, die vom Dichter getreten wird, bis hin zum Schrumpfen der Heimat im Selbst des Dichters oder seiner Aufblasbarkeit in imaginäre Richtungen, die keine räumliche Verortung besitzen.
Ein erschreckendes Ergebnis der jungen Menschen, die den Boden unter den Füßen verloren haben und aufgrund der politischen und sozialen Bedingungen in ihren Ländern in einem Raum der Einsamkeit und der absoluten Verzweiflung gefangen sind.
All diese Themen haben uns dazu verleitet, den Titel „Vaterland buchstabieren“ zu wählen, und nicht den Begriff „Heimat“ auszusuchen, denn die Texte junger Menschen stellen ihre missliche Lage vor politischen Entwicklungen inihrer Gesellschaft und die Erschütterung des Konzepts von Identität und Zugehörigkeit hin zu einer Realität oder einer Imagination dar, in der die Ruhe und die Sicherheit der Kindheit herrschen.
Aus dem Projekt moderne arabische Lyrik ins Deutsche zu übersetzen kann aus der Erfahrung geschlussfolgert werden, dass sich die Erfahrung junger libanesischer Dichter nicht von der Erfahrung von Dichtern in den anderen arabischen Ländern unterscheidet, die von Kriegen und Wirtschaftskrisen befallen sind. Selbst von Dichtern aus nicht-arabischen Ländern, die ebenso von derselben Tragödie betroffen sind, gibt es keinen Unterschied zur tragischen Realität der jungen libanesischen Dichter.
Die wachsende Angst vor dem Verlust des Ortes und der sozialen Bindung veranlasste den polnisch-britischen Philosophen und Soziologen Zygmunt Bauman (1925-2017) und die russisch-amerikanische Kulturwissenschaftlerin und Anthropologin Svetlana Boym (1959- 2015), vom Beginn der Retrotopia-Ära zu sprechen. Sie sprachen von der „Nostalgie für das Feuer eines imaginären Stammes“, oder vielmehr von „einer globalen Epidemie der Nostalgie, die sich in dem allgegenwärtigen emotionalen Bedürfnis nach Gemeinschaft, kollektivem Gedächtnis und Kontinuität in einer zunehmend fragmentierten Welt“ ausdrückt. Die Nostalgie ist als soziales Phänomen zu verstehen, d.h. als „Symptom unserer Zeit“ und als Abwehrmechanismus gegen die sich beschleunigenden Tempos des Lebens.
Wo ist also das Feuer des Stammes in der modernen arabischen Poesie? Die Heimat, aus der wir hergekommen sind, oder die Heimat, zu der wir hinwollen, die wir aus Gründen der Fantasie, der Flucht oder der Zuflucht suchen?
Es besteht kein Zweifel, dass dies eines der sensibelsten Themen ist, welches erneut in Betracht gezogen werden muss, zumal die Erde zu einem kleinen Dorf geworden ist, in der die rasant wachsenden Probleme miteinander verflochten sind und die Regionen ein Bestandteil des menschlichen und globalen Raums sind.
In einer seiner Reden sagte der ehemalige Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland: „Ich glaube, dass sich die Heimat auf die Zukunft bezieht, nicht auf die Vergangenheit.
Heimat ist dort, wo wir sie als Gesellschaft errichten“.
Dieses Konzept in der modernen arabischen Poesie zu retten und das arabische Gedicht aus den Gemächern des selbstversunkenen Segelns, Auspeitschens oder der selbstpsychologischen Behandlung zu entfernen, ist eine unvermeidliche Notwendigkeit, die einen Großteil der Mentalität der arabischen Gesellschaft verändern kann, zumal die Anzahl der Dichter in ihr nicht zu unterschätzen ist.
Dr. Sarjoun Karam
Universitätsdozent, Verleger und Dichter. Diplom in arabischer Sprache und Literatur und Master für Linguistik an der Universität Balamand – Libanon. Promoviert in arabischer Literatur an der Universität Heidelberg und habilitiert an der Uni Bonn. Leiter des Übersetzungsprojekt moderner arabischer Literatur mit Dr. Sebastian Heine und Cornelia Zierat. ins Deutsche. Fünf dichterische Werke, übersetzt ins Deutsche, Chinesische und Englische.