Über die Geschichte von Rabia al-Adawiyya, ihre Geburt, ihren Tod und ihre Abstammung zu schreiben, ist keine leichte Angelegenheit, aber um die Debatte zu diesem Thema zusammenzufassen, können wir auf die bisherigen Darstellungen ihrer Persönlichkeit zurückgreifen.
1- Rabia al-Adawiyya: Rätselhaftigkeit und Spannung
Über die Geschichte von Rabia al-Adawiyya, ihre Geburt, ihren Tod und ihre Abstammung zu schreiben, ist keine leichte Angelegenheit, aber um die Debatte zu diesem Thema zusammenzufassen, können wir auf die bisherigen Darstellungen ihrer Persönlichkeit zurückgreifen. Die erste Darstellung geht auf Al-Jahiz (163-255 n. H. bzw. 785-877 n Chr.)1 zurück. Diese Darstellung hat den Vorteil, dass Al-Jahiz in einer Zeit lebte, die nah bei ihren Lebensdaten liegt. Er erwähnt sie unter dem Namen Rabia Al-Qaysiyyah aus Basra und beschrieb sie als begabte Rednerin. Ihren Namen ”Al-Adawiyya” führte er auf die Sippe Atiks zurück, der zu den Nachkommen Adwas gehörte2. Die meisten Historiker schreiben, dass sie in Basra geboren wurde, ohne jedoch ein genaues Geburtsdatum zu nennen. Einige geben die Jahre 714, 717 und 718 n. Chr. als ihr Geburtsjahr an. Sie starb im Jahr 801 n. Chr. bzw. 183 n. H.3 , wobei auch die Ansicht vertreten wird, dass sie im Jahre 135 n. H. bzw. 757 n. Chr. in Jerusalem gestorben sein soll4.
2- Die Wichtigkeit Rabias im islamischen Denen: Es ist nicht möglich, über die Ideen von Rabia
al-Adawiyya zu schreiben, ohne sich auf die damalige Lebensrealität zu beziehen. Basra war zu dieser Zeit geprägt von Luxus und einer materialistischen Lebensweise in all ihren Erscheinungsformen. Gleichzeitig gab es aber auch eine aktive Bewegung für die Askese, womit die Einrichtung von beratenden Versammlungen der Religionsgelehrten einherging, die insbesondere auf die Initiative von Al-Hasan Al-Basri (642–728n. Chr.5) zurückgingen . Hassan Al-Basri etablierte eine Methode und Philosophie der Askese, die schulbildend war. Die Lebensdaten von Hassan Al-Basri und Rabia al-Adawiyya überschneiden sich etwa zehn Jahre, was geistesgeschichtlich be- trachtet keine lange Zeit ist. Basierend auf diesen Daten führten die Erzählungen den Grund für Rabia al-Adawiyyas Hinwendung zur Askese auf ihre Reue für die verbotenen Dinge und Genüsse zurück, die sie bis dahin kennengelernt hatte.
An dieser Stelle ist zu beachten, dass die historischen Dokumente nur wenige Informationen über ihr Leben davor liefern6. Wir stellen jedoch fest, dass diejenigen, die über Rabia al-Adawiyyas Beziehung zu Al-Hasan Al-Basri geschrieben haben, nicht ausschließen, dass es zu einem Treffen zwischen ihnen kam oder sie bei dem von ihm abgehaltenen Versammlungen anwesend war7.
Rabia al-Adawiyya hat ihre Ideen nicht in eigenen Büchern niedergeschrieben. Wir kennen sie nur durch Fragmente, die entweder von Leuten stammen, die sie liebten oder die sie hassten. Diese Fragmente sind größtenteils in Form von Gedichten geschrieben, manche aber auch in Prosa. Unser Wissen über die Ideen von Rabia al-Adawiyyas beruht hauptsächlich auf den Angaben des im Iran geborenen Sufi-Dichters Fariduddin Attar (1145-1221 n. Chr.), wie er sie seinem Buch ”Erinnerung an die Heiligen” niedergeschrieben hat8.
Da zwischen Rabia und Attar mehr als 340 Jahre liegen, was beträchtlich ist, ist die Authentizität der bei Attar erwähnten und Rabia al-Adawiyya zugeschriebenen Poesie umstritten.
Die Sufi-Dichtung ist durch die Hinwendung zum Einen und Einzigen Geliebten, nämlich Gott, gekennzeichnet. Dabei variiert die Ausdruckskraft und Intensität der geschilderten Gottesliebe von einem Sufi-Dichter zum anderen. Nach Ansicht einiger hebt die göttliche Liebe die Grenzen zwischen dem Liebenden und dem Geliebten auf, so dass manche sogar die Vereinigung mit dem göttlichen Geliebten behaupten. Dieses Gefühl kann sprachlich nicht mehr ausgedrückt werden. Es ergibt sich in der Gegenwart des ”Einen und Einzigen” aus der spirituellen Energie. Die Funktion der Sprache besteht darin, Gedanken und Gefühle auszudrücken, um mit dem ”Ich” oder dem ”Anderen” zu kommunizieren. Wenn diese Funktion jedoch fehlt, bleibt die Sprache an den Schwellen des Selbst stehen und wartet auf seine Rückkehr aus der Welt, in der er völlig vom Geliebten absorbiert wird, zurück in den Kreis des Ich und des Anderen, ins Erwachen und ins natürliche Leben. Dabei wird es von einer Ekstase begleitet, die es in jener Welt erlebt hatte und nicht verbergen kann, da es vom Genuss des Schmerzes und dem Schmerz des Genusses, vom Genuss der Absorption, vom Schmerz des Erwachsens nach der Absorption und vom Schmerz der Sehnsucht nach der Erfahrung der erneuten Rückkehr in die Absorption begleitet wird. Dieses spirituelle Erlebnis wurde von den Sufis in unterschiedlichen Epochen auf viele Arten ausgedrückt, darunter: Sehnsucht und Anziehung, Abgeschiedenheit und Vorbereitung, Verzierung und Absorption. Es sind Ausdrucksformen, die durch die Erfahrungen derjenigen verfeinert wurden, die sie erlebten, und die es zur Zeit von Rabia al-Adawiyyas nicht gab. Bei der Analyse und Erklärung von Rabias Gedichten können diese Begriffe jedoch zu einem tieferen Verständnis beitragen.
3-Die Gnosis der Rabia al-Adawiyya: Eine kurze Vorstellung
”Irfan”, Arabisch für Gnosis, ist ein Wort, das aus der arabischen Wurzel für ”wissen” abgeleitet ist. Die Betonung liegt hier in der Quelle des Wissens. Allgemeinwissen umfasst sinnliches, rationales (Spekulative Theologie und Philosophie), rhetorisches und emotional-intuitives Wissen sowie Offenbarung, symbolische und abstrakte Inspiration und Allgegenwärtigkeit.
Der Begriff ”Gnosis” war zu Beginn des Islam nicht bekannt, nicht einmal zur Zeit der zweiten Generation von Muslimen. Wir finden ihn jedoch in der Literatur späterer Sufis9. Dhu an-Nun al-Misri (gest. 245 n. H.) klassifiziert Wissen etwa in drei Arten: Wissen über den Monotheismus, dies betrifft die Allgemeinheit der Muslime, Wissen über Argumentation und Erklärung, dies betrifft die Weisen und Beredsamen, und die dritte Art ist das Wissen über die Eigenschaften der Einheit, dies dient der Hoheitsgewalt der aufrichtigen Leute Gottes10. Wir stellen fest, dass Al-Qushayri (gest. 1072 n. Chr.) den ersten Schritt unternommen hat, um dem Ausdruck ”Exploratives und geschmacksbezogenes Wissen” seine Bedeutung zu geben, die wir unter ”Wissen” klassifizieren. Dabei verließ er sich darauf, die Verse des Heiligen Korans auf seine eigene Weise innerhalb des Begriffs der ”Gewissheit” zu interpretieren. Im Koran erscheint das Wort ”Gewissheit” einmal als ”Wahrheit der Gewissheit” (Sure Al-Wāqiāa, Vers: 95), als ”Wissen der Gewissheit” (Sure At-Takāthur: Vers 5) und als ”Auge der Ge- wissheit” (Sure At-Takāthur: Vers 7). Al-Qushayri verwendete das Wort ”Gewissheit” als Ergänzung zur Definition von ”Wissen”, ”Wahrheit” und ”Auge”, um – ob mit Absicht oder nicht – einen neuen kognitiven Ansatz aufzubauen, der bis dahin in der arabisch-islamischen Kultur noch nicht etabliert war. Das Wissen der Gewissheit unterlag also keinem Beweis, sondern war für diejenigen, die über Vernunft verfügen, das Auge der Gewissheit unterlag nicht der Erklärung, sondern war für diejenigen, die über Wissen verfügen und die Wahrheit der Gewissheit war keine Beschreibung des Sehens, sondern für diejenigen, die über Kenntnis verfügen. Diese Klassifizierung setzte sich danach in der Literatur der Sufis fort und formte sie in all ihren rhetorischen und kognitiven Zeugnissen, bis sie mit Al-Suhrawardi (1154-1191 n. Chr.) ihren Höhepunkt erreichte, als er einen speziellen Begriff auf konkretes Wissen anwandte, den er ”Die Erleuchtung” nannte11.
Aus kognitionstheoretischer Sicht kann man sagen, dass die Herrschaft von Sinn und Vernunft und ihre Erkenntnisse nach Ansicht der Gnostiker als spekulativ und möglicherweise falsch gelten. Aus diesem Grund könne man sich nicht auf sie verlassen. Nur Offenbarung und Erleuchtung seien die richtigen Wege zum ”geschmacksbezogenen” Wissen, das denen vorbehalten ist, die es am eigenen Leib erleben.
Dieses geschmacksbezogene Wissen ist kein bildliches und mathematisches Wissen, sondern vielmehr ein Wissen, das mit einem damit einhergehenden Gefühl verbunden ist, einem Gefühl, das in den Gedichten derer ausgedrückt wurde, die Gott erfahren haben. Diese konnten dies nur im Rahmen der Poesie und mit Fragmenten zum Ausdruck bringen, die wir als Eskapaden bezeichnen würden. Aus diesem Grund kann es auch nur von denen verstanden werden, die es schmecken. Für denjenigen, der nicht von ihren Wurzeln, ihrer Frucht und ihrer Wasserstelle getrunken hat, bleibt es unverständlich. Es ist kein Wunder, dass der gnostische Kenner manchmal zum Objekt des Misstrauens und manchmal zum Objekt der Heiligsprechung wird. Diese Vermischung von Geschmackssinn und gnostischer Sprachwahrnehmung ließ die Gnostiker gemäß ihren ”Beobachtungen” erkennen, dass die Tatsachen des Lebens nichts weiter als eine Illusion oder ein vergängliches und wertloses Leben seien, und sie danach streben müssten, dem Leben und seiner Versuchungen zum Trotz bis in die Reihen der Heiligen und Geläuterten zu gelangen.
Alles, was wir bisher erwähnt haben, gilt für die Anhänger der Gnostik, einschließlich Rabia al-Adawiyya, die ein Verfahren einführte, von dem man sagen kann, dass es sich um instinktive Gnosis handelt. Ihre sprachliche Ausdrucksweise ist einfach. Sie resultiert gegenwärtigen und tatsächlichen Gefühlen und weist keine aus dem Bereich der spekulativen Theologie stammende Formulierung auf, so wie es bei den späteren Gelehrten der Fall ist, darunter der Mystiker Ibn al-Arabi.
Die Erleuchtung des Bewusstseins, die sie überkam, als sie sich dessen nicht bewusst war, weckte sie aus ihrem ”Schlaf” und entriss sie der Genußsucht und den Sünden des Lebens. Nach dem, was wir zuvor über Gnosis erwähnt haben, ist es nicht verwunderlich, dass sich Rabia danach in einem Zustand der ”Entfremdung” wie nach einem Fehltritt befand. Es war ein Zustand der Entfremdung von ihrem bisherigen, materialistischem Wesen, sowie der Entfremdung von allen kulturellen und sozialen Bestandteilen um sie herum. Dies ist ein Zustand, der einen in einen Zustand der Abgeschiedenheit versetzt, den man nur mit sich selbst und mit seinem Herrn teilt. Genau so wurde ihr Zustand und so blieb er auch bis zu ihrem Tod. Sie kannte sich selbst und kannte ihren Herrn. Es ist die Philosophie der Gnosis: ”Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn”. Die Kenntnis der Seele führt zu ihrer Verfeinerung, Befreiung, Weiterentwicklung und Reinheit und dann zu ihrer Absorption in das, was ihr gegeben wird und was sie liebt. Dies ist der Zustand der Gnostiker und auch der Zustand von Rabia al-Adawiyya.
Es geht nicht darum, der Realität zu entfliehen, wie manche Forscher die Gnostiker gerne beschreiben, vielmehr geht es darum, die Realität mit ihrem Materialismus zu konfrontieren und sie durch Ersetzung der ”das Böse befehlenden” Seele zu zähmen. Von dort soll die Transzendenz über die Realität hinaus hin zu realistischen, immateriellen, abstrakten und geschmacksbezogenen Ebenen erfolgen. Das Endergebnis dieser Angelegenheit ist die Verkörperung der Idee des perfekten Menschen, der einer der ”Heiligen Gottes ist, die weder Furcht verspüren noch traurig sein werden”12.
4- Das gnostische Denken in der Poesie Rabia al-Adawiyyas:
Da Rabia al-Adawiyya weder über eine Gedichtsammlung noch über ein Buch verfügt, sondern es – wie bereits erwähnt – nur vereinzelte Fragmente gibt, werden wir Verse aus ihren Gedichten vorstellen und einige ihrer gnostischen Ideen herausarbeiten. In einem ihrer Gedichte, das die Liebe zum Schöpfer beschreibt13, sagt sie:
”Ich kenne die Neigung, seit ich die Neigung zu dir kenne, und ich habe mein Herz vor jedem außer dir verschlossen”.
So wie die Liebe Zustände, Ebenen und Stationen hat, ist das Verschließen des Herzens vor jedem außer Gott ein freiwilliger Prozess, der Entschlossenheit und einen enormen Willen erfordert. Es handelt sich nicht um einen gegenwärtigen Zeitzustand, sondern vielmehr um einen festen und erhabenen Halteplatz. Diese Existenz mit all ihren Versuchungen erfüllt Rabias Herz nicht mehr und ist nicht mehr in der Lage, die Sehnsucht nach der Begegnung mit dem Einen Geliebten zu stillen. Hierbei handelt es sich nicht um ein Treffen zwischen zwei Geliebten, sondern um ein Treffen der Verschmelzung im Rang Gottes.
Das Ich hat keinen existenziellen oder gar subjektiven Wert mehr. Deshalb sehen wir, dass sie davon spricht, die Neigung zu Gott erst kennengelernt zu haben, nachdem sie den Geschmack der Nähe zu ihm gekostet hatte. Neigung ist hier nur ein Ausdruck, für den Rabia keine Alternative hatte, um diesen zu einem Halteplatz gewordenen Zustand zu beschreiben. Die im Universum bekannten Begriffe wie Neigung oder Liebe können den Wert dieser spirituellen Halteplätze nicht erreichen, geschweige denn darüber hinaus zu den Halteplätzen des Bezeugnisses gelangen, wobei es sich hierbei um die absolute Absorption im Einzigen Geliebten handelt.
Aus der Erzählung, die besagt, dass ihr Komponieren von Gedichten nach ihrer Leidenschaft für Musik und ihrem professionellen Flötenspiel begann, zitieren wir die folgenden Verse114:
O meine Freude, o meine Sache der Begierde, o meine Säule, mein enger Freund, meine Ausstattung, mein Wunsch
Du bist der Geist des Herzens, du bist meine Hoffnung, du bist mein vertrauter Gefährte und die Sehnsucht nach dir ist mein Reiseproviant,
Wenn es dich, mein Leben und mein vertrauter Freund, nicht gäbe, wäre ich nicht im weiten Land zerstreut,
Wie viele Wohltaten traten doch in Erscheinung und wie viel habe ich dir doch zu geben
Die Liebe zu dir ist nun mein Ziel und meine Wonne und auch klar für das Wesen meines durstigen Herzens
Wir werden uns hier nur auf die Analyse des ersten Verses konzentrieren, um gnostische Ideen herauszuarbeiten, die Rabia kannte und die sie erlebt hat:
O meine Freude, o meine Sache der Begierde, o meine Säule, mein enger Freund, meine Ausstattung, mein Wunsch
Durch diesen Vers entdecken wir einige Halteplätze der göttlichen Liebe, die Rabia auf der Grundlage ihrer einzigartigen Erfahrung zum Ausdruck bringt. Jeder gnostische Liebende hat seine eigenen Halteplätze, und zwar entsprechend seiner Erfahrung. Die Halteplätze der göttlichen Liebe sind hier: Der Halteplatz der Geselligkeit, der Halteplatz des Stolzes und der Halteplatz des Wunsches. Die Frage ist: Wie können wir diese Halteplätze verstehen?
Natürlich ist es nicht möglich, diese Halteplätze so zu verstehen, wie Rabia sie gesehen hat. Um sie zu verstehen können wir jedoch einen kognitiven Ansatz verfolgen, und zwar basierend auf dem, was einige Gnostiker verbreitet haben, und auf ihrem Versuch, sie dem Verständnis der Allgemeinheit näher zu bringen. Wenn wir zum ersten Halteplatz zurückkehren, die vom Gelehrten Ibn Qayyim al-Jawziyyah erklärt wurde, finden wir folgende Erklärung: ”Zu den Zeichen eines gesunden Herzens gehört, dass es die Erinnerung an seinen Herrn nicht vernachlässigt, ihm zu dienen nicht überdrüssig wird, sich nicht an der Gesellschaft eines anderen erfreut, bis auf dem, was es zu ihm führt, es an ihn erinnert und mit dem es bei dieser Angelegenheit Rücksprache halten kann115”.
Es ist ein Zustand des ständigen Kontakts und der Kommunikation mit dem Geliebten, und jede ”Erinnerung” an ihn drückt die Kraft der Ekstase aus, ihm nahe zu sein, ihn zu treffen und in seine Gegenwart geworfen zu werden. Eventuell handelte es sich hierbei um einen Halteplatz, der zu den Grundlagen der Wohltätigkeit gehört, dem dritten Zeichen des Islam nach den Säulen des Islam und den Säulen des Glaubens. Die Gnostiker spezialisierten sich nach Abschluss der ersten und zweiten Säule mit beispielloser Aufrichtigkeit auf die dritte Säule (Es gibt nichts im Gewand außer Gott). Dieser Halteplatz ist der Halteplatz ”Wo auch immer du dein Antlitz hinwendest, so ist dort das Antlitz Gottes.”. Wo auch immer der Liebende um sich herum hinblickt, so sieht er nur seinen Geliebten, denn der Geliebte ist überall. Es ist der Halteplatz, ”Gott anzubeten, als ob man ihn sehen würde, denn obwohl man ihn nicht sieht, so sieht aber er einen16”. Es ist der Halteplatz der innigen Betrachtung seines Geliebten, eine Anschauung, dessen Süße nur derjenige kennt, der sie gekostet hat.
Deshalb sind diese Mystiker standhaft, selbst wenn man ihnen vorwirft, Ungläubige, Ketzer oder Verrückte zu sein. All dies hinderte sie nicht daran, ihrem Geliebten weiterhin treu zu bleiben. Deshalb ist der Geliebte der Geist des Herzens und nicht das Herz. Er ist die leuchtende Energie, der dem Herzen innewohnt. Wenn er nicht wäre, dann würde das Herz weder schlagen noch sprechen noch sehnen noch lieben. Wie sollte dies auch möglich sein, wobei er doch die grenzenlose Hoffnung des Geistes ist. Je mehr diese leuchtende Energie, die Energie der Liebe und der göttlichen Unterstützung, zunimmt, desto mehr wächst seine Sehnsucht nach ihm. Ihr sind keine Grenzen gesetzt, denn sein Herz schlägt nur durch ihn und für ihn. Bei dem Halteplatz der Versorgung handelt es sich um eine spirituelle Versorgung, also um eine verborgene aber dennoch anwesende Versorgung. Es handelt sich um die erleuchtende Aktivierung von inaktiven spirituellen Eigenschaften, die seit der Geburt vorhanden sind und die der Geliebte bei einigen Menschen, in denen er in der Welt des ersten Atoms seine Liebe gepflanzt hatte, platziert hat. Er ließ es sie wissen und daraufhin haben sie ihn dort erkannt. Er hat ihnen den Halteplatz des Namens ”Gott ist Gott, Du bist du und er ist er” enthüllt und sie vor anderen mit dem dritten Namen ausgezeichnet. Es ist der Halteplatz des Auserwähltseins und der Platzierung. Wer diese erreicht, erreicht Glückseligkeit im Diesseits und im Jenseits. Der Halteplatz der Versorgung und der Vorbereitung wird nur durch spirituelle Unterstützung aktiviert, oder wie es im Vers heißt: ”Sie alle, diese und jene, unterstützen Wir mit etwas von der Gabe deines Herrn. Und die Gabe deines Herrn wird nicht verwehrt17”. Gott hat den Umfang der Gabe, dessen Intensität, Stärke oder Erleuchtung nicht festgelegt: ”Und die Gabe deines Herrn wird nicht verwehrt”. Eine unbegrenzte Gabe und Versorgung sind der Reiseproviant des Wollenden und desjenigen, der Gott liebt. Hier müssen wir darauf hinweisen, dass es Wollende gibt, die ihren Weg zu Gott bestreiten, aber auch Wollende gibt, die ihr Herr vor der Schöpfung auserwählt und zu seinen Heiligen gemacht hatte. Hierbei handelt es sich um den Rang der Propheten und der Heiligen. Zu einem Zeitpunkt ihres Lebens hatte der Herr Rabias spirituelle Eigenschaften aktiviert und auch spirituell versorgt. Wenn er nicht gewesen wäre, dann hätte sie nie den Kontakt zu ihrem Geliebten gesucht, sondern wäre weiterhin in der Welt der Vergänglichkeit und des Materiellen geblieben, zwischen Sein und Nichtsein.
Jeder Gnostiker wird von Gott mit der ihm angemessenen Zuwendung bedacht, und zwar entsprechend seinen Möglichkeiten und seinem gnostischen geschmackbezogenen Rang. Es ist die leuchtende Energie, die das Herz des Liebenden ohne Unterbrechung erleuchtet und durch die er innere Anschauungen und himmlische Erträge erblicken kann. Eine Fackel kann ihrem Besitzer entweder den Weg erhellen und die Wärme genießen lassen oder ihn verbrennen. Dies hängt von seiner spirituellen Bereitschaft ab. Aus diesem Grund kann es nicht schaden, wenn Rabia Folgendes erwähnt: Wenn es dich, mein Leben und mein vertrauter Freund, nicht gäbe, wäre ich nicht im weiten Land zerstreut. Hiermit drückt sie einen erleuchteten spirituellen Gefühlszustand aus. Bezüglich des Halteplatzes des Wollenden ist in den gnostischen und mystischen Orden wohlbekannt, dass die Annäherung an Gott durch die auferlegten Gottesdienste, die zusätzlichen freiwilligen Handlungen der Anbetung und die Handlungsweisen gemäß des religiösen Gesetzes (wobei es hier verbotene und erlaubte Handlungsweisen gibt) erreicht wird. Dies ist der Weg, den die meisten Menschen zu Gott gehen. Es gibt aber auch welche, die über diesen Weg hinaus gehen, indem sie das Prinzip der Wohltätigkeit verfolgen, so wie wir es vorher erklärt hatten. Auch unter den Leuten der Wohltätigkeit gibt es welche, die darüber hinausgehen, indem sie all dies zu einem dauerhaften Weg machen, den sie jederzeit in ihren Bewegungen und in ihren Ruhephasen verfolgen.
Aus diesem Weg schöpfen sie ihr Verhalten, während sie sich zu Gott begeben. Dieser Weg braucht aber einen Führer, da er voller Versuchungen der Seele, des Egos, des Teufels, des Ansehens, des Reichtums usw. ist. Es war also notwendig, dass es einen Führer und Lehrer gibt, der den Weg und die Leute des Weges leitet und vor diesen Gefahren beschützt. An dieser Stelle befindet sich der Halteplatz des Wollenden, der seinen Wunsch dem Wunsch seines Gelehrten unterordnet, der wiederum selbst sich dem Willen des Gesandten Gottes unterordnet, ”und Gott schützt dich vor den Menschen18”. Wer sich an diesen Weg hält, den wird Gott im Rahmen seines freiwilligen Willens vor Abweichungen und Versuchungen schützen. Dieser Halteplatz wird von den meisten Wollenden der gnostischen Mystik eingenommen. Die Tränke, zu der sie durch ihren Gelehrten geführt werden, ist die Energie, die mit ihnen, mit dem Gesandten Gottes und von da aus auch mit Gott verbunden ist. Es ist der Weg des gnostischen Gewinns. Gemeint sind hiermit die Worte Gottes: ”Er liebt sie, und sie lieben ihn19”. Diese haben also keine Wahl, ob sie Gott lieben wollen, vielmehr ist er derjenige, der sie dazu bringt, ihn ohne ihren Willen zu lieben. Ihr Wunsch nach ihrer Liebe zu Gott ist für ihre Liebe zu ihm veranlagt. Dies ist so, da einige seiner Diener auserwählt sind, aber auch das Auserwähltsein hat Rangstufen. Dies ist ein Rang, der auch für Rabia al-Adawiyya bestimmt war, jedoch verzögerte sich die Erlangung aus Gründen, die wir an dieser Stelle nicht behandeln können. Ihre Liebe zu ihm, wobei er ihr Wunsch ist, geschah nicht nach ihrer Wahl, sondern weil er sie auserwählt hatte, und zwar weil sie sich in ihrer Liebe und ihrer Beschäftigung allen anderen entsagte. Er wurde zum Wunsch, ”durch dessen Licht sie spirituell dahinschmolz20”. Dies geschah durch ihre Liebe zu ihm, und zwischen ihnen gab es kein Hindernis. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, ihren Wunsch durch irgendein Mittel, sei es durch einen Gelehrten oder ”Führer21” , zu erreichen, weil Gott derjenige war, der sie ganz allein gewollt hatte! Dieser Rang wurde dem Propheten Moses, Friede sei mit ihm, dadurch verliehen, dass Gott zu ihm sagte: ”und damit du vor meinem Auge aufgezogen würdest22” und auch durch seine Worte im selben Vers: ”Und ich habe auf dich Liebe von mir gelegt”. Natürlich besitzt Rabia nicht den gleichen Rang wie der Prophet Moses, aber wir können aus ihren Gedichten erkennen, dass sie den Rang des Auserwähltseins und der Platzierung erlangt hat. Von diesem Halteplatz aus möchte ich abschließend sagen, dass der Versuch, diese Heiligen zu verstehen, ein annähernder Versuch des Verstehens bleibt und dass die Erklärung der verbleibenden Gedichte von Rabia al-Adawiyyas über die Methode der Gnosis immer noch große Anstrengungen erfordert.
5- Fazit
Rabia al-Adawiyya gilt als eine der Ersten, die die Bausteine für die praktische und mystische Gnosis legten, welche der philosophisch-theoretischen Gnosis vorausging. Man kann sie als instinktive Gnosis bezeichnen, die empirischer Erfahrung und Beobachtung entspringt, die mit göttlicher Liebe aufgeladen ist. Ihre gelebten Gedanken konnten manchmal nur in einer symbolischen und bildhaften Sprache formuliert werden, denn dem Liebenden, der vollständig vom Geliebten absorbiert wird, reichen sprachliche Ausdrücke zur Äußerung seiner Gefühle meistens nicht aus, da diese prinzipiell rationaler Natur sind. Entweder bleiben sie ein Geheimnis, das der Liebende für sich behält, oder ein Symbol, das er ausspricht und dies ist auch der Fall bei Rabia al-Adawiyya und ihrer Erfahrung, die sich zwischen Symbol und Geheimnis bewegt. Dementsprechend waren sich diejenigen, die versuchten sie zu verstehen, uneinig. Die einen liebten sie und enthielten sich des Urteils über sie, und die anderen versuchten sie zu verunglimpfen und ihr die Zugehörigkeit zum Islam abzusprechen.
Quellen:
1 Weitere Informationen unter: Abdul Munazim Al-Hafni, Rabia al-Adawiyya, Das Imamat der traurigen Liebenden, Dar Al-Rashad, Kairo, zweite Auflage 1996, S. 13-14) (Studien über die Geschichte des islamischen Sufismus, Dr. Jamal Al-Din Faleh Al-Kilani, Al-Zanbaqa Bibliothek, Kairo 2014, S. 76).
2 Al-Zirikli nennt sie in seinem biographischen Nachschlagewerk mit vollem Namen als Rabia, Tochter von Ismail al-Adawiyya von den Leuten Basras, die im Jahr 135 n. H. gestorben ist.
3 Sophia Pandya, Rabia al Adawiyya. In: Juan Eduardo Campo: Encyclopaedia of Islam, NY 2009, S.578f
4 Es hieß, ihr Grab befände sich am Stadtrand von Jerusalem, auf einem Berg namens Al-Tur oder Tur Zeta. Dies war die Meinung von Ibn Chalikan, Ibn Shakir Al-Kutbi in seinem Buch ”Die bekannten Persönlichkeiten der Geschichte”, Al-Maqdisi in seinem Buch ”Der Entfacher der Liebe” und Al-Suyuti in ”Die Wiederbelebung der Tugenden der Ahl al-Bait”.
5 Al-Hasan al-Basri, in: Encyclopaedia of Islam, THREE, Heraus. von: Kate Fleet, online abgerufen am 09 Juni 2023 <http://dx.doi.org/10.1163/1573, Erste Druckedition: 9789004335707, 2017,2017
6 Abderrahan Badwi: Die Märtyrerin der göttlichen Liebe, Rabia al-Adawiyya, Die ägyptische An-Nahda Bibliothek, Ausgabe 2, 1962, S. 6. Zur Idee ihrer Reue vgl. das Buch von Rashid Salim Al-Jarrah: Sufi-Asketen, der Die reuige Asketin Rabia al-Adawiyya, die Märtyrerin der göttlichen Liebe, Dar Al-Kutub
7 Ebd. S. 18.
8 Ebd. S. 7-11.
9 Mohammed Abed Al-Jabri: Kritik der arabischen Vernunft (2), Der Aufbau der arabischen Vernunft, Markaz Dirasat al-Wahda al-Arabiya, Auflage 2, Beirut, 1992, S. 251.
10 Al-Ilmiyya, Beirut, Auflage 1, 2006, S. 11-17. 10 Ebd.
11 Ebd. S. 251-252.
12 Sure Yunus, Vers 62.
13 Ebd.
14 Abderrahman Badwi: Ebd. S. 24.
15 Ibn Qayyim al-Jawziyyah: Die Hilfe für den Reuigen gegen die Fallen des Teufels, S. 72 (Entnommen aus der vorherigen Quelle).
16 Sahīh al-Buchārī, Hadith Nr. (4777).
17 Sure Al-Isrāʾ, Vers 20.
18 Sure Al-Māʾida, Vers 67.
19 Sure Al-Māʾida, Vers 54.
20 Bearbeitet durch den Redakteur.
21 Bearbeitet durch den Redakteur: Muhyī d-Dīn Ibn ʿArabī, Die mekkanischen Eroberungen, Drittes Buch, Erster Absatz ”Wer den Weg ohne einen göttlichen Führer erlangen will, der will etwas Unmögliches erlangen”.
22 Sure Tā-Hā, Vers 39.
Dr. Nizar Ghurra
ein Forscher und Autor palästinensischer Herkunft, wohnhaft in Deutschland und vereidigter Übersetzer für die deutsche Sprache. Er studierte islamische Philosophie, Ethik und Kunstgeschichte an den Universitäten Haifa und Heidelberg und arbeitete als Lehrer am Max-Planck-Gymnasium in Ludwigshafen.