Die bekannte deutsche Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel (1922-2003), deren 100. Geburtstag wir in diesem Jahr gefeiert hätten, hat sich durch ihren besonderen, liebenden Blick auf den Islam von der deutschen und internationalen Islamwissenschaft ihrer Zeit deutlich unterschieden. Ein besonderes Kraftfeld ihrer Arbeit lag auf den Gebieten von Mystik und Ästhetik des Islams. Stefan Weidner fragt nach den Wurzeln dieses Islambildes, nach seiner heutigen Bedeutung und inwiefern es zukünftig wegweisend sein könnte.
Ich beginne mit dem Geständnis, dass ich Annemarie Schimmel beneide. Ich hätte nichts dagegen, mit ihr zu tauschen. Sie würde sich auf einen solchen schlechten Deal natürlich nicht einlassen. Freilich ginge es mir bei diesem Tausch auch nicht um Äußerlichkeiten. Ich beneide sie nicht, weil sie erfolgreich war. Sie war ja in Wahrheit noch viel mehr als bloß erfolgreich, denn sie war eine erfolgreiche Frau — in einem vollkommen von Männern dominierten Milieu.
Dafür bewundere ich sie, aber es ist klar, dass niemand sie um die Auseinandersetzungen beneiden kann, die sie dafür durchmachen musste, all die kleinen Erniedrigungen, von der sie in ihrer Autobiographie berichtet, etwa der Verniedlichung ihrer Person und ihres Namens als „Fräulein“, als „Schimmelin“ oder „Cemile“ und „Djamila“, wie man sie lautmalerisch mit einem arabischen und türkischen Adjektiv nannte. Auch wenn es übersetzt „die Schöne“ heißt, reduzierte es sie doch auf eine Äußerlichkeit. Hätte man dergleichen bei einem hochbegabten, aufstrebenden Mann gewagt? „Die Männer sind unsere Feinde“, zitiert Schimmel eine feministische Freundin.
Seit ihrem Studium in Berlin, ihrer Tätigkeit für das Auswärtige Amt und die Morgenländische Gesellschaft während des Kriegs war sie in der deutschen Orientalistik bestens vernetzt2. Bereits 1941, mit 19, promovierte sie, heute unvorstellbar; und im März 1945, mitten in den Wirren des Kriegsendes, reichte sie ihre Habilitationsschrift ein. Dennoch erhielt sie erst 1961 in Bonn einen halbwegs angemessenen akademischen Posten.
Annemarie Schimmel beschäftigte sich nicht bloß
wie alle anderen mit den Klassikern der orientalischen Literaturen, sondern auch mit den Dichterinnen und Dichtern ihrer eigenen Generation, ja sogar mit jüngeren
Annmarie Schimmel war die erste Islamwissenschaftlerin, die überhaupt von sich reden machte. Wie sehr die Frauen in dieser Wissenschaft fehlten, merken wir daran, dass von den Dutzenden von Koranübersetzungen in europäische Sprachen erst in jüngster Zeit eine von einer Frau publiziert worden ist, die (inzwischen in drei Teilbänden vorliegende) von Angelika Neuwirth im Verlag der Weltreligionen3. Die närrische Idee patriarchal geprägter Kulturkreise, wie bis zuletzt auch dem unsrigen, dass das Heilige Männersache ist, wirkt hier auf entlarvende Weise nach.
Annemarie Schimmel geriet mitten hinein in diese Mühlen, aber sie ließ sich nicht zermahlen. Vielmehr hat sie den Bann ein für allemal gebrochen und das Studium der Islamwissenschaften für Frauen normalisiert. Die Generation nach ihr hat zahlreiche bedeutende Islamwissenschaftlerinnen hervorgebracht. Angelika Neuwirth hatte ich schon genannt, nennen wir außerdem für den deutschsprachigen Raum Gudrun Schubert, Rotraud Wielandt, Wiebke Walther, Alma Giese und andere. Sie alle dürfen sich auf die ein oder andere Weise als Erbinnen von Annemarie Schimmel betrachten und stehen ihr nah nicht zuletzt in ihrer besonderen Neigung zur Literatur.
Wenn ich Annemarie Schimmel also um ihre von den Männern ausgebremste Karriere nicht beneide — schon als Mann war mir das Karrieremachen zu mühselig —, worum dann? Zweifellos um die zahlreichen Sprachen, die sie besser beherrschte als ich. Und natürlich auch um ihre Bücher, von denen sie so viele geschrieben hat, dass ihr Vorsprung für immer uneinholbar ist. Wobei ich mich damit tröste, dass sie im Bücherschreiben sogar die fleißigsten Autorinnen und Autoren noch übertroffen hat.
Mit ihren Übersetzungen und Büchern hat sie auch meinen Weg als Islamwissenschaftler gebahnt. In zweierlei Hinsichten bin ich in ihre viel zu großen Fußstapfen getreten. Da ist zum einen die Zeitschrift „Fikrun wa Fann „(Gedanke und Kunst), die auf Arabisch den Dialog zwischen Deutschland und der arabischen Welt unterstützt hat. Sie wurde 1963 von Albrecht Theile und Annemarie Schimmel begründet und bis Mitte der siebziger Jahre geleitet. Ein Vierteljahrhundert später, zur Epochenwende von 9/11, durfte ich sie als Chefredakteur übernehmen. 2016 meinte das Goethe-Institut, das die Zeitschrift seit der Verschmelzung mit Inter-Nationes 2002 herausgab, man könne das Geld dafür besser verwenden, man interessiere sich heute nicht mehr so sehr für Print-Produkte. 2020 löschte das Goethe-Institut ohne Angabe von Gründen das wertvolle digitalisierte Archiv der Zeitschrift mit vielen immer noch aktuellen Artikeln von der Goethe-Webseite. Inzwischen existiert keine Spur mehr davon.
Wenn wir die Hefte aus Annemarie Schimmels Zeit mit denjenigen aus meiner vergleichen, bekommen wir eine erste Ahnung davon, worum ich Annemarie Schimmel beneide: Auch dafür nämlich, dass sie eine solche Zeitschrift nach eigener Lust und Laune, auf Hochglanzpapier und unter rein ästhetischen, künstlerischen Kriterien gestalten durfte, ohne darin auch nur ein Wort über Politik verlieren zu müssen, geschweige denn zu wollen!
So wenig es mich gereut hat, die Zeitschrift politischer, kontroverser, polyphoner auszurichten, kommt man beim Durchblättern der älteren Ausgaben doch nicht umhin zu denken, dass die Welt in einer Zeit, da man eine solche Zeitschrift so machen konnte, wie Annemarie Schimmel es tat, ein wenig schöner war, oder jedenfalls empfänglicher für Schönes, unbefangener. Freilich hatte man Annemarie Schimmel zwischenzeitlich vorgeworfen, nicht politisch genug zu sein. Aber sollte man sie um diesen Vorwurf heute nicht beneiden, da bis in die feinsten Gliederungen der Sprache alles gnadenlos politisiert wird?
Natürlich ist das am Ende nicht wirklich der Grund, weswegen ich sie beneide. Bevor ich darauf komme, erlauben Sie mir, auf einen zweiten Aspekt ihres Werks hinzuweisen, worin sie mir zum Vorbild geworden ist. Annemarie Schimmel war eine der ersten und wenigen, sehr wenigen Islamwissenschaftler/innen ihrer Generation, die sich für die zeitgenössische muslimische Welt nicht als totes philologisches Material oder als politischen, soziologischen Problemfall interessierten, sondern die sich für deren zeitgenössische Literatur begeistern konnten. Annemarie Schimmel beschäftigte sich nicht bloß wie alle anderen mit den Klassikern der orientalischen Literaturen, sondern auch mit den Dichterinnen und Dichtern ihrer eigenen Generation, ja sogar mit jüngeren. Das war etwas völlig Neues, geradezu Unerhörtes! Die islamische Welt wurde zur Zeitgenossin, und zwar nicht als Problemfall, sondern im Hinblick auf ihre neusten Errungenschaften, als lebendige, gegenwärtige Kultur auf Augenhöhe mit unserer.
Während Annemarie Schimmel sich also zurecht von Said nicht getroffen fühlen musste (sie geht, so weit ich weiß, auch nirgends auf ihn ein), ist es doch so, dass auch sie in einer Tradition und in einem Umfeld arbeitete, das aus anti-imperialistischer, post-kolonialer Perspektive, wie Edward Said sie vertrat, zu Recht verdächtig geworden war
Um diesen von Annemarie Schimmel eingeleiteten Paradigmenwechsel zu würdigen, müssen wir bedenken, dass sich Goethe, Rückert und alle anderen, deren Interesse für den Orient immer gelobt wird, doch allein für seine Vergangenheit interessierten, für seine seit langem verstorbenen Dichter, Denker, Heiligen.
Annemarie Schimmel publizierte dagegen bereits 1975 eine Anthologie mit Übersetzungen zeitgenössischer arabischer Lyrik4. Daran konnte ich als Übersetzer und Arabist zwanzig Jahre später anschließen — und mich daran reiben und üben5. Annemarie Schimmel hatte vorgelegt. Konnte man, konnte ich es nicht besser machen? Das war gar nicht so schwer: Und zwar indem ich das zur Hauptsache machte, was für Annemarie Schimmel eine kleine Nebenarbeit war, Sägespäne ihres eigentlichen Wirkens. Wollte man Annemarie Schimmel übertreffen, musste man als Hauptsache, also gleichsam mit rechts, das betreiben, was sie mit links getan hatte. Um mit ihr zu konkurrieren, musste man professionell werden, wo sie nur improvisiert hatte. Wo sie die ersten Pfade schlug, bauten wir große, breite Straßen, und bildeten uns ein, es besser zu machen als sie. Gewiss taten wir das ein Stück weit, oder durften es zumindest glauben; aber sie war doch die erste gewesen, die den Weg beschritten hatte.
Annemarie Schimmel betrachtete ihre arabischen, türkischen, iranischen, pakistanischen Bekannte und Freunde nie als Auskunftsgeber, native informants oder dergleichen, geschweige denn als „Objekte“ (in Anführungszeichen) anthropologischer, ethnologischer, soziologischer oder politologischer Forschung, wie es heute noch oft der Fall ist. Ihre Autobiographie „Mein west-östliches Leben“ ist nicht zuletzt ein großes Erinnerungsbuch an all ihre muslimischen Freundinnen und Freunde. Indem Annemarie Schimmel die artifiziell-akademische ebenso wie die gefühlte und verinnerlichte Distanz aufgab, die viele in ihrer Zunft von den „Gegenständen“ trennte, eine Distanz, die häufig als wissenschaftlich nötig, als „objektiv“ verbrämt wird, ragte sie weit über ihre Zeit hinaus in die Zukunft der Islamkunde, sofern diese noch eine Zukunft haben soll. Ich brauchte sie in diesem Punkt nicht beneiden, sondern konnte auf dem Pfad weitergehen, den sie eingeschlagen hatte.
Die Friedenspreis-Debatte6
Worum ich sie beneide, ist der Umstand, dass sie trotz aller vorausweisenden Aspekte ihres Werks auf der anderen Seite eines Bruchs, eines Grabens stand, der ein gradliniges Weitergehen für uns spätere unmöglich machte. Hier war etwas abgerissen, musste neu bedacht werden. Dieser Bruch ist nicht erst mit den Anschlägen vom 11. September 2001 bezeichnet, die ich bereits genannt habe und deren Nachwirkungen ich mein jüngstes Buch gewidmet habe, „Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart7“.
Für Annemarie Schimmel selbst wurde dieser Bruch bereits zuvor offensichtlich: In Gestalt der Kampagne, die gegen sie geführt wurde, als sie 1995 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Man warf ihr vor, im Fall der Todesfatwa, die Ayatollah Khomeini in Iran gegen den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie ausgesprochen hatte, den Autor des Romans „Die satanischen Verse“, nicht entschieden genug Position bezogen zu haben, ja für die Empörung mancher Muslime ungebührlich viel Verständnis gezeigt zu haben.
Das mächtigste und bekannteste indische Reich war das der Mogulen, das seine Blütezeit im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert hatte. ”Im Reich der Großmoguln” lautet der Titel des einschlägigen Buchs von Annemarie Schimmel über diese Welt, die heute angesichts des Hindu-Nationalismus in Indien kaum noch Anwälte hat
Damit kündigten sich die ideologischen Auseinandersetzungen an, die nach 9/11 und noch stärker während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ um das Jahr 2015 die deutsche und euro-amerikanische Politik bestimmten. Es genügte für Annemarie Schimmel nicht, klar gegen Khomeinis Fatwa Stellung zu beziehen. Sie sollte auch der Empörung gläubiger Muslime jede Berechtigung, ja den Anlass absprechen; das heißt, sie sollte der gewohnten westlichen Arroganz und Ignoranz ihren Segen erteilen. In dieser Forderung manifestierte sich eine politische Logik des Entweder-Oder, der eingebildeten intellektuellen Rechtgläubigkeit, die bis heute unsere Streitkultur bestimmt: Es ist eine Logik, die alle Zwischentöne, jedes „Sowohl-als auch“, jedes Abwägen, jedes Paradox für ein Vergehen hält und ausmerzen will. In letzter Zeit haben wir das bei den Debatten um die Pandemie erlebt, seither erleben wir es bei denen um die Waffenlieferungen in die Ukraine. Das gute alte Wissen, dass es Sachlagen geben könnte, die sich nicht wie multiple-choice Aufgaben lösen lassen, auf die es die eine und einzige, gute und richtige Antwort nicht gibt, ist im breiteren öffentlichen Diskurs inzwischen verloren gegangen.
Im Fall der „Satanischen Verse“ sahen sich die Schimmel-Kritiker dem Paradox ausgesetzt, dass westlichen Leser’innen Rushdies Buch, seine provokante Wucht und künstlerische Leistung, ohne islamwissenschaftliche Erläuterungen unverständlich blieb. Denn um diese Wucht nachzuvollziehen, wie es für eine Würdigung doch nötig wäre, muss man die muslimischen Legenden aus der Anfangszeit des Islams kennen, die darin parodiert werden. Anders als die üblichen Literatur- oder KulturkritikerInnen war Annemarie Schimmel eine der wenigen, die sachgemäß darüber urteilen konnten. Aber vor lauter Angst, dass ein solches Wissen die eigenen Selbstverständlichkeiten erschütterte — was es ja nicht einmal zwangsläufig tat —, setzte man sich lieber nicht damit auseinander. Annemarie Schimmel wurde zur Projektionsfläche für ein neu aufkommendes Feindbild, das uns bis heute im Griff hält und das, falls uns das demokratische Glück verlässt, morgen zur Implosion Europas führen könnte.
Der Streit um den Friedenspreis für Annemarie Schimmel war natürlich nicht die Ursache, sondern nur ein Symptom für den Bruch, den Graben, auf dessen anderer Seite Annemarie Schimmel stand, der aber für meine Generation und alle danach kaum noch zu überwinden war. Worin bestand dieser Bruch also eigentlich, was war seine Ursache?
Er bestand, einfach gesagt, darin, dass es schon zu Annemarie Schimmels Lebzeiten keinen unschuldigen Blick auf den Islam und die islamische Welt, auf die arabische Welt, auf den „Orient“ mehr geben konnte, während doch die islamwissenschaftliche Perspektive und Praxis von Annemarie Schimmel diesen arglosen, unvoreingenommenen Blick zur Voraussetzung hat. Aus einer gnadenlos objektivierenden, „wissenschaftlichen“ Distanz; oder aber aus einer ebenso gnadenlosen Kultur des Verdachts, der Unterstellung und des Argwohns heraus sind fremde kulturgeschichtliche Phänomene nicht angemessen zu begreifen und nachzuvollziehen, geschweige denn zu bewundern; bleiben sie totes Material, bloß das Objekt einer Obduktion.
Der Edward-Said Schock
Den stärksten Ausdruck und die einleuchtendste Begründung dieses Argwohns, der im übrigen auf Wechselseitigkeit beruht, fand der amerikanisch-palästinensische Kulturwissenschaftler Edward Said, ein Zeitgenosse, ja Ivy-League-Kollege von Annemarie Schimmel. Mit Edward Saids 1978 publiziertem Buch „Orientalism“8, dem Paukenschlag der postkolonialen Theorie, endete die Epoche der vermeintlichen Unschuld, bekam der in den Verwerfungen der Kolonialzeit wurzelnde Bruch die nötige Erhellung und Theorie.
Freilich meinte Edward Said, als er den „Orientalismus“ demontierte, nicht nur die akademische Islamwissenschaft, und erst recht nicht die Art und Weise, wie Annemarie Schimmel sie praktizierte. Ohnedies sparte er den deutschen Orientalismus gnädigerweise aus, zum einen, weil er kein Deutsch konnte, zum anderen, weil die streng philologische Prägung der deutschen Orientwissenschaften weniger Angriffsfläche bot als die dezidiert machtpolitische der anderen, älteren Kolonialmächte.
Annemarie Schimmel könnte uns daher als gutes Beispiel dafür dienen, wo Edward Said über das Ziel hinaus schießt oder schlicht falsch liegt. Eine rassistische Abwertung des Islams finden wir bei ihr ebensowenig wie eine Wissenschaft, die machtpolitisch ohne weiteres instrumentalisierbar gewesen wäre. Nur trifft das auf die deutsche Islamwissenschaft insgesamt leider nicht zu. Sie hat sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und dann wieder zwischen 1933 und 1945 ebenfalls bereitwillig für machtpolitische Zwecke einspannen lassen, etwa dafür, einen Djihad der Muslime gegen England und Frankreich anzuzetteln. Eine der größten Leistungen der klassischen deutschen Arabistik, Hans Wehrs Arabisch-Deutsches Wörterbuch, immer wieder neu aufgelegt und ins Englische übersetzt, ist während des zweiten Weltkriegs entstanden und eine Frucht der weltpolitischen Ambitionen des Deutschen Reichs. Während Annemarie Schimmel sich also zurecht von Said nicht getroffen fühlen musste (sie geht, so weit ich weiß, auch nirgends auf ihn ein), ist es doch so, dass auch sie in einer Tradition und in einem Umfeld arbeitete, das aus anti-imperialistischer, post-kolonialer Perspektive, wie Edward Said sie vertrat, zu Recht verdächtig geworden war. Der Islamwissenschaft kam damit in progressiven Kreisen ihr Gegenstand abhanden, er wurde fraglich, fragmentierte, atomisierte sich. In der daraus resultierenden, oft schwer zu durchschauenden ideologischen Gemengelage war für eine Vision des Islams, wie Annemarie Schimmels sie hegte, plötzlich kaum noch Raum, wie die Aufregung anlässlich des Friedenspreises dann zeigte. Da es aber gute Gründe gibt, diese Vision zu vermissen, will ich versuchen, sie näher zu erläutern und sie von dem ideologischen Schutt frei zu schaufeln, der in den letzten fünf Jahrzehnten darauf abgeladen wurde.
Romantische Sicht
In zwei sehr einfachen Stichworten können wir diese Vision als eine sowohl liebende, begeisterte als auch eine romantische, romantisierende Sicht auf den Islam nennen. Damit unterlief sie die spätere Kritik am Orientalismus durch Edward Said und die postkoloniale Theorie ebenso wie die seit jeher in den Islamwissenschaften residierende Abwertung ihres Gegenstandes aus der Zeit christlich-anti-islamischer Propaganda.
Sie unterlief damit aber auch eine uns selten bewußt werdende Form des intellektuellen Imperialismus, der in der unkritischen Feier der Fortschrittsmoderne besteht, in einer Abwertung von allem, was aus deren Perspektive vormodern anmutet, nicht auf der Höhe der Zeit, unterentwickelt, zurückgeblieben. Seit der Aufklärung geht diese Fortschrittsmoderne mit einer Abwertung von Religion, Mystik und Ästhetik einher — all dessen also, was die Welt verzaubern will oder verzaubern könnte; all dessen auch, dem Annemarie Schimmel ihr Werk gewidmet hat.
Der Dichter Novalis, ein thüringischer Landsmann von Annemarie Schimmel, hatte diese Situation in seinem berühmten Aufsatz über die „Christenheit oder Europa“ bereits vor über zweihundert Jahren auf den Punkt gebracht. Demnach bleibt die aufklärerische Kritik durch die „Apologeten des Empirismus“, wie Novalis sie nennt, nicht bei der Religion stehen, wo sie ja allzu oft berechtigt ist, sondern sie „dehnte sich folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe. Die Apologeten des Empirismus waren rastlos beschäftigt, die Natur, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, – jede Spur des Heiligen zu vertilgen und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Wo keine Götter sind, walten Gespenster9”.
Novalis trug diese Rede auf dem berühmten Treffen der Frühromantiker im November 1799 in Jena vor, also nicht weit von Erfurt, Annemarie Schimmels Geburtsstadt. Sein Freund Friedrich Schlegel wiederum, der wenige Jahre nach dem Jenaer Treffen nach Paris ging, um dort Persisch und Sanskrit zu studieren, schrieb 1800 in seiner Zeitschrift Athenaeum, dass „wir im Orient das höchste Romantische suchen müssen10“, und rief dazu auf, indische Poesie zu übersetzen — genau das, was Annemarie Schimmel später tat: Sie übersetzte die indo-muslimische Poesie.
Wir befinden uns im Kontext von Schlegels Forderung nach einer „progressiven Universalpoesie“ und von Novalis’ Streben nach einer „Romantisierung der Welt“ — beides Konzepte zur Wiederverzauberung, Synapsenbildung, Grenzüberschreitung und einer Zusammenschau der Dinge, welche künstlich konstruierte Teilungen und Spaltungen aufhebt, nicht zuletzt natürlich politische. Bereits für Johann Georg Hamann, den Lehrer Herders, war Poesie „die Muttersprache des menschlichen Geschlechts11“, und Friedrich Rückert sagte in einem von Annemarie Schimmel gern zitierten Spruch, dass „Weltpoesie allein Weltversöhnung“ sei12.
Weit jenseits der orientalisierenden, exotisierenden, verandernden Sicht auf den Orient, welche Herder und die Romantiker noch pflegten, machte sich Annemarie Schimmel an die Arbeit und zeigte, was eine in dieser romantischen Tradition stehende Vision des Orients in einer globalisierten Welt leisten kann. Umgeschmolzen in die gelebte und konkrete übersetzerische Praxis, wie bei Annemarie Schimmel, verdanken wir dem romantischen Enthusiasmus eine deutlich erweiterte Vorstellung von Weltliteratur. Die einst — ja kommerziell betrachtet heute noch — dominante, eurozentristische Konnotation von Weltliteratur wurde aufgebrochen, indem nicht mehr nur, wie noch zu Rückerts Zeiten, allein die Klassiker übersetzt wurden, sondern auch die Literatur der der Gegenwart, wie ich bereits angedeutet hatte.
Mit dem poetischen und sprachlich-übersetzerischen Aspekt ihres Wirkens ist wiederum der ästhetische berührt. Annemarie Schimmel hatte von allen mir bekannten Islamwissenschaftler’innen den intensivsten ästhetischen Sinn für die Schönheiten des Islams. Damit schuf sie nicht zuletzt einen Anknüpfungspunkt für die folgende Generation, insbesondere für die seit den neunziger Jahren nachrückenden Forscher, die selber einen muslimischen Hintergrund haben. Einige von ihnen haben noch bei Schimmel gehört.
Damit schuf sie einen weiteren Anknüpfungspunkt für die folgende Generation, vor allem für die seit den neunziger Jahren nachrückenden Islamwissenschaftler’innen in Deutschland, die einen muslimischen und migrantischen Hintergrund mitbringen. Einige von ihnen, heute recht bekannt, haben bei Schimmel selbst noch studiert, wie natürlich Jamal Malik, wie auch Katayun Amirpur oder Navid Kermani. Seine Dissertation „Gott ist schön“ ist schon dem Titel nach der Programmatik von Annemarie Schimmel verpflichtet, und sie erschien im selben Verlag wie ihre Bücher, bei C.H. Beck. Die Fähigkeit oder der Wille, im Islam oder allgemeiner gesprochen, in der muslimisch geprägten Welt etwas Schönes zu sehen, seine Ästhetik zu schätzen, geht ja gerade den Islamkritikern radikal ab; laut Thilo Sarrazin etwa hat die islamische Welt keine nennenswerte Ästhetik uns Kunst hervorgebracht. Der besondere Sinn für muslimische Ästhetik geht bei Schimmel sogar so weit, dass sie die orientalische Musik der abendländischen Kunstmusik, etwa in Gestalt von Johann Sebastian Bach, vorzieht. Sie schreibt: „Ein Dhrupad-Konzert der weltberühmten Daggar Brothers in (…) Bonn faszinierte mich so sehr, dass ich anderthalb Stunden auf dem Fußboden saß, ohne mich anzulehnen – dabei gilt dhrupad, die älteste From indischer Musik, als ausgesprochen fremd für den ausländischen Zuhörer13“.
Auch hier also wie im Fall der Literatur ein klares Bekenntnis gegen die Idee einer westlich-abendländisch-christlichen Hegemonie in den Künsten, in der Weltkultur. Bei Annemarie Schimmel konnten sich Menschen verstanden fühlen, die nicht nur in Europa zu hause waren und sein wollten. Annemarie Schimmel baute durch diese Haltung den deutschen Muslimen und ihren Nachkommen eine Brücke in die akademische Beschäftigung mit dem Islam. Sie war nun keine Beschäftigung mit etwas Trockenem, Totem, Vergangenem mehr. Annemarie Schimmel brachte dem, was sie erforschte, nicht zuerst Distanz und Skepsis, sondern Bewunderung und Liebe entgegen.
Mystik
Das Interesse an der Ästhetik des Islam ließ sich für Annemarie Schimmel leicht mit dem an der Mystik verbinden. Man stellt sich darunter gern etwas Geheimnisvolles, Irrationales vor. Mystik wird als Gegensatz zu Vernunft, Moderne, Rationalität, Fortschritt, und so weiter begriffen. Das ist jedoch ein auf die säkularen und orthodoxen Gegner der Mystik zurückgehendes Zerrbild, das wenig mit ihren tatsächlichen Ausprägungen zu tun hat. Historisch betrachtet bedeutet Mystik keine Einschränkung der Rationalität, sie ist auch nicht anti-rational, sondern eine Ausweitung, eine erst seit der Säkularisierung befremdlich anmutende Anwendung der Ratio. Vieles von dem, was früher unter dem Label Mystik betrieben wurde, könnten wir heute dem Bereich der Geisteswissenschaften, der Literatur, der Philosophie, der Psychologie oder der Ethik zuordnen.
Ebenso wie die Naturwissenschaft arbeitet die Rationalität der Mystik mit Modellen und Hypothesen. Ebenso wie die Naturwissenschaften konstruiert sie — ganz im Sinn des Konstruktivismus — eine Wirklichkeit, und zwar auf eine Weise, die ebenfalls offen ist für Debatten, Streit, Auseinandersetzung, Widerspruch und Bestätigung, also Formen der Falsifikation. Wie diese Modelle, Hypothesen, Konstruktionen und Falsifikationen bei den Muslimen ausgesehen haben, davon berichtet uns Annemarie Schimmel in ihrem Klassiker über die „Mystischen Dimensionen des Islams“.
Zu glauben, die islamischen mystischen Dimensionen, wie überhaupt jedwede, seien ein religiöses Relikt, ein Kuriosum, und die Beschäftigung damit entweder eine Art Archäologie des Geistes oder aber eine Verirrung, wäre ein großer, fundamental moderner Irrtum. Dass Annemarie Schimmel dies noch klar wusste, sah und sehen konnte, beziehungsweise wie selbstverständlich aus dieser Grundannahme, aus diesem Gedanken heraus arbeiten konnte, zählt zu den Gründen, weshalb ich sie beneide. Es gab immerhin, zu ihrer Zeit, noch genügend Menschen, die wussten, wovon sie redete, die sie verstanden und zu denen die Traditionen, die ich genannt habe, noch als eine lebendige sprach. Solchermaßen Gleichgesinnte fand Annemarie Schimmel sowohl unter den Muslimen, mit denen sie befreundet war, aber auch unter gleichgesinnten Islamwissenschaftler’innen, die sie an verschiedenen Stellen nennt: zum Beispiel Louis Massignon oder Henri Corbin, zwei der bedeutenden französischen Orientalisten des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie hatten sich ebenso intensiv wie Annemarie Schimmel dem Studium der arabisch- und persischsprachigen Mystik gewidmet.
Das Mogulreich
Für Annemarie Schimmel kam als weitere Besonderheit die Beschäftigung mit dem indischen Subkontinent hinzu. Sie ist für die deutschsprachige Islamkunde, ja für weite Teile der Islamwissenschaft überhaupt leider marginal. Der indo-muslimische Schwerpunkt, den ihr Schaffen durch die eigens dafür eingerichtete Professur in Harvard bekommen hat, bildet zudem die Schnittmenge, in der Mystik und Ästhetik unmittelbar zusammenfallen, ja miteinander verschmelzen, wie sich bis heute an den herausragenden Schöpfungen der Mogularchitektur ablesen, ja sinnlich unmittelbar erfahren lässt, denken wir den Taj Mahal in Agra oder die viel kleinere und weniger bekannte, aber nicht weniger großartige Wazir-Khan-Moschee in Lahore, gleichsam die Sixtinische Kapelle des Mogulreichs.
Weite Teile Indiens standen mehr als ein halbes Jahrtausend unter muslimischer Herrschaft; wir müssen natürlich Pakistan und Bangladesh dazuzählen, die erst nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft gewaltsam von diesem historischen Großraum abgetrennt wurden. Das mächtigste und bekannteste indische Reich war das der Mogulen, das seine Blütezeit im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert hatte. „Im Reich der Großmoguln“ lautet der Titel des einschlägigen Buchs von Annemarie Schimmel über diese Welt, die heute angesichts des Hindu-Nationalismus in Indien kaum noch Anwälte hat.
Im Mogulreich vollendete sich — und ging zu Ende — eine Kultur, die Mystik und Ästhetik auf innovative Weise mit einander verschmolzen hatte. Wie heute kaum noch bekannt ist, nahmen die Mogulen dabei Traditionen auf, die von der griechischen Antike im Mittelmeerraum über die arabisch-persischen Reiche im Mittelalter bis zum Hinduismus und Buddhismus reichten, die ihrerseits seit dem Asienfeldzug Alexanders des Großen vom Hellenismus geprägt waren. Bekanntlich hat Alexander in der islamischen Tradition den Status eines Propheten und taucht sogar im Koran auf (18:83-98). Und das literarisch bedeutendste Alexanderepos stammt vom persischen Dichter Nizami aus dem zwölften Jahrhundert. Dank der schönen Übersetzung von Johann Christoph Bürgel, eines Schülers und Kollegen von Annemarie Schimmel, können wir es inzwischen auch auf Deutsch lesen14.
Die arabische und persische Philosophie und Mystik, im Mogulreich intensiv gepflegt, lassen sich bis auf den spätantiken Neuplatonismus zurückführen und verschmolzen diesen antiken Einfluss mit nach-koranischen und lokalen Traditionen zu einem sufisch-mystischem Kosmopolitismus. Die lingua franca dieses Kosmopolitismus war das Persische, die dichterische Sprache von Hafis und Rumi, die über mehr als ein halbes Jahrtausend hinweg von den Literaten und Mystikern von Sarajevo bis Delhi verstanden wurde. Persisch war auch die Hofsprache der Mogulen; noch jeder britische Kolonialbeamte, der einigermaßen Karriere machen wollte, musste Persisch lernen. „Die Welt des persischsprachigen literarischen Humanismus“ hat der amerikanisch-iranische Islamwissenschaftler Hamid Dabashi, übrigens einer der prominentesten Schüler von Edward Said, diese Tradition in seinem gleichnamigen Buch von 2012 genannt.
Echo in Deutschland und Europa
Nun verhält es sich aber so, dass die geistesgeschichtliche Entwicklung, die sich bei uns in Gestalten wie Hamann, Herder, Schelling, Hammer-Purgstall, Goethe, Novalis, Schlegel und Rückert niedergeschlagen hat, seit jeher in einem Zusammenhang mit jener älteren, spätantiken, neuplatonischen, und dann eben auch muslimischen Geschichte, Mystik und Ästhetik stand und von ihr mit geprägt wurde. Insofern verwundert es nicht, dass Annemarie Schimmel bereits als Kind in Erfurt auf Spuren dieses Weltbildes traf, bei Rilke ebenso wie bei Rückert, in orientalischen Märchen ebenso wie bei Gustav Freytag, in einer alten „Geschichte der Weltliteratur“ ebenso wie in der Gestalt des damals weltweit beachteten jungen indischen Gurus Krishnamurti, der von den Theosophen, denen Schimmels Eltern wohl nicht fern standen, zum „Weltenlehrer“ stilisiert worden war. Und, wie bereits angedeutet, natürlich bei ihrem Thüringer Landsmann Meister Eckhart. Vergleiche zwischen Meister Eckhart und der orientalischen Mystik sind und waren Gang und Gäbe. So stellte zum Beispiel 1931, als Schimmel neun Jahre alt war, der damals sehr bekannte schwedische Erzbischof Nathan Söderblom fest: „Der Bettelmönch Indiens strebt nach demselben Zustand wie der große deutsche Mystiker15“. In ihrer Autobiographie heißt es: „In der Stadt [Erfurt] lebte noch das Andenken an Meister Eckhart, der in der Predigerkirche gewirkt hatte16“.
Wie die Welten des Islams nach Mitteleuropa vermittelt wurden, hatte ich bereits erwähnt: Es war ein Effekt des im achtzehnten Jahrhundert nach Asien ausgreifenden europäischen Kolonialismus, vor allem des französischen und britischen, in kleinerem Maße auch niederländischen und dänischen — denken wir etwa an die von Göttingen aus betriebene, vom dänischen König finanzierte Arabien-Expedition Carsten Niebuhrs, die zur Goethezeit viel von sich reden machte. Auch die preussisch-österreichischen Aktivitäten und Ambitionen im Orient, in diesem Fall im Osmanischen Reich, sind zu nennen. Aus dieser Tradition stammen Hammer-Purgstalls Beiträge zur Orientkunde, ihr verdankt sich seine Hafis-Übersetzung, die Goethe so sehr inspiriert hat. Noch Rückert, der ebenfalls unweit von hier, in Coburg und Schweinfurt, lebte und übersetzte, lernte Persisch von Hammer-Purgstall. Die romantische Orientbegeisterung war ein Effekt des Kolonialismus. Einer der wenigen guten, wenn wir so wollen.
Der kulturelle Reichtum, der aus Asien und Nordafrika nun herüber drang, ließ sich mit einer in Deutschland bereits lange vor der Romantik bestehenden mystischen Tradition kurzschließen, wie sie für Thüringen etwa Meister Eckhart und vielleicht auch der frühe Martin Luther verkörpern, und welche ihrerseits, vermittelt über die wiederum arabisch geprägte Scholastik, in der spätantiken Philosophie wurzelt. In der Frühromantik fand diese Ideengeschichte dann eine eigenwillige, hochreflektierte Fortsetzung auf der Höhe der Zeit. „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg“, schrieb Novalis im sechzehnten Blütenstaub-Fragment: „In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich17“. Und auch: „Der Mensch vermag in jedem Augenblick ein übersinnliches Wesen zu seyn18“.
Von solchen Thesen ausgehend war der „geheimnisvolle Weg“ in den Orient für die Frühromantiker nicht weit. Ihn betrat Friedrich Schlegel, der beste Freund von Novalis, der wie bereits erwähnt 1802 zum Studium von Persisch und Sanskrit nach Paris gegangen war. 1808 publizierte er sein einflussreiches Buch „Über die Sprache und Weisheit der Indier“. Er dachte voraus, was anderthalb Jahrhunderte später für Annemarie Schimmel zur Praxis wurde: „Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich wie die des Alterthums!“, schrieb er im Athenaeum19, und forderte die deutschen Künstler und Gelehrten dazu auf, Übersetzungen anzufertigen.
Sein Bruder August Wilhelm Schlegel wurde schließlich der Begründer der deutschen Indologie, und zwar ausgerechnet an der Universität von Bonn, auch das eine seltsame Koinzidenz zum Lebensweg Annemarie Schimmels, die ja ebenfalls bis zuletzt in Bonn wohnte und lehrte. Ein älterer dritter der Schlegel-Brüder, Karl August, hatte als Soldat in der britischen Kolonialarmee in Indien gedient und war 1789 in Madras gestorben, wie Schlegel in der Vorrede seines Indienbuchs erwähnt. Wir ahnen, dass Kolonialismus und intellektuelles Interesse am „Orient“ zuweilen bis in die Familienbeziehungen hinein zusammenhängen.
Wenige Jahre nach Schlegels Indienbuch, 1814, las Goethe in Weimar die Gedichte von Hafis in der Übersetzung von Hammer-Purgstall und begann die Arbeit am „West-östlichen Divan“. Exakt zur selben Zeit leiht sich ein junger, ehrgeiziger Philosoph, der mit Goethe eine Bekanntschaft pflegt, aus der herzoglichen Bibliothek in Weimar zwei ebenso schwere wie schwierige Bücher aus, die lateinische Übersetzung der ältesten indischen Philosophie, der Upanischaden, publiziert 1802 von einem französischen Indienreisenden, Anquetil-Duperron — auch das eine Frucht des Kolonialismus.
Diese Übersetzung ins Lateinische war keine aus dem Sanskrit, worin die Upanischaden ursprünglich aufgezeichnet worden sind, sondern aus dem Persischen, wie erwähnt die Sprache am Hof der Mogulen. Die ersten, die, lange vor Friedrich Schlegels Aufruf, dieses indische Weisheitsbuch übersetzt hatten, waren folglich die Muslime in Indien, nicht die Europäer. Die Mogulen hatten auch andere berühmte indische Werke übersetzt, bevor irgendwer in Europa auch nur davon gehört hatte: die Bhagavad-Gita ebenso wie das Mahabharata. Sie hatten diese Werke übersetzt, weil sie die indische Mystik als gleichrangig anerkannten. Das galt besonders für die Upanischaden. Sie glaubten, darin die Weisheit der Sufis, ja den Koran selbst wiederzufinden. Und sie übersetzten die Upanischaden in einem sufischen Geist, das heißt so, wie die muslimischen Mystiker dieses Buch deuteten. Aber schon viele Jahrhunderte zuvor, um die Jahrtausendwende, hatte al-Biruni, der große arabische Naturwissenschaftler und Historiker, die Yoga-Sutren übersetzt und Vergleiche zwischen Sufis und Yogis gezogen.
Die Upanischaden wurden ungefähr zur selben Zeit ins Persische übersetzt, als das Taj Mahal erbaut wurde, Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Das war kein Zufall: Dara Shikoh, der Übersetzer-Prinz, war niemand anderes als der Sohn von Mumtaz Mahal, deren Grabmal das Taj Mahal darstellt. Dies alles geschah in der Regierungszeit Schah Jahans, neben seinem Großvater Akbar der berühmteste der mogulischen Herrscher. Im lateinischen Gewand gelangte nun anderthalb Jahrhunderte später diese muslimisch-persische Übersetzung der Upanischaden zu Arthur Schopenhauer, unserem jungen, ehrgeizigen Philosophen in Weimar, und sie prägte seine Philosophie zutiefst, wie er bis an sein Lebensende betont.
Der indo-muslimische Schwerpunkt, den ihr Schaffen durch die eigens dafür eingerichtete Professur in Harvard bekommen hat, bildet zudem die Schnittmenge, in der Mystik und Ästhetik unmittelbar zusammenfallen, ja miteinander verschmelzen, wie sich bis heute an den herausragenden Schöpfungen der Mogularchitektur ablesen
Wie Schopenhauer nicht ahnen konnte, waren es aber nicht einfach die Upanischaden, die er in einer lateinischen Übersetzung las, sondern er las sie gemäß ihrer vorherigen muslimischenÜbersetzung, Deutung, Verwandlung. Was Schopenhauer für indisch und hinduistisch hielt, ist bei genauerem Hinsehen sehr oft nur die muslimisch-sufische Interpretation des ursprünglichen, auf Sanskrit verfassten Ausgangsmaterials. Das gilt besonders für das Konzept von Maya, das in den persischen und lateinischen Übersetzungen als Liebe, Begehren und Willen gedeutet wird, während Indologen und Freunde der indischen Philosophie heute darunter nur die Täuschungen der Sinnenwelt verstehen.
Es war aber die ältere muslimische Deutung, die Schopenhauers Terminologie entscheidend beeinflusst hat. Sein Hauptwerk trägt bekanntlich den Titel: „Die Welt als Wille und Vorstellung“. „Wille und Vorstellung“ sind in diesem Titel die beiden Seiten des upanischadischen „Maya“. „Maya“ entspricht laut Schopenhauer sowohl Kants „Ding an sich“ — dann ist es der Wille; als auch der sinnlichen Erscheinungswelt bei Kant — dann ist es die Vorstellung.
Die Frage von Traum und Realität bei unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit, die sich hinter dem Konzept von Maya verbirgt, war aber schon seit Annemarie Schimmels Kindheit eines der Hauptmotive ihrer Faszination für den „Orient“; denn dieser setzte sich damit intensiver auseinander als das europäische Denken. „Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie“ lautet der alte muslimische Spruch, der, so erinnert sich Schimmel, erstmals ihr Interesse am Orient weckte20.
Der Zusammenhang der Geistesgeschichte
Es handelt sich dabei aber nur um eines von vielen Beispielen dafür, welche fulminante Wirkung Orientalisches, wie auch immer wir es begreifen, gleich ob indisch oder muslimisch, gleich ob persisch, arabisch oder türkisch, auf das Europa des frühen neunzehnten Jahrhunderts ausübte, und wie sehr dieser Einfluss fortwirkte, bis er schließlich auch Annemarie Schimmel prägte, die dann ihrerseits wiederum die muslimischen Quellen dieses Einflusses erforschte, freilich ohne dabei notwendigerweise den Schluss zu ihrer eigenen Vorprägung zu ziehen, zum genius loci der Thüringer Frühromantiker und Mystiker.
Tatsächlich sind wir es nicht gewohnt, derartige Rückschlüsse zu ziehen, fremde Einflüsse anzuerkennen. Sonst müssten wir gestehen, dass das vermeintlich Andere, Fremde — also zum Beispiel das Orientalische, Muslimische — , schon seit über zweihundert Jahren nichts Anderes und Fremdes mehr, sondern ein Teil von „uns“ (in Anführungszeichen) geworden ist. Dann müssten „wir“ anerkennen, dass „wir“ von diesem vermeintlich Fremden, Anderen, schon lange geprägt sind, dass wir mit und an ihm gewachsen, mit seiner Hilfe romantisch, globalisiert und, ja, sogar „modern“ geworden sind, und dass wir keineswegs irgendeine Art von Überlegenheit, Voraussein, Fortschritt oder Autonomie im Umgang mit dem vermeintlichen „Rest“ der Welt beanspruchen können.
In Annemarie Schimmels Werk schließt sich folglich ein Ideenkreis, der, obwohl er zunächst fremd anmutet, muslimisch, tief mit der europäischen wie der asiatischen Geistesgeschichte vernetzt und verwoben ist. In diesem Sinn studierte Annemarie Schimmel gar nichts Fremdes, Unbekanntes, sondern nur den vergessenen, verdrängten Teil unserer eigenen, eben immer schon von Außereuropäischem beeinflussten Kulturgeschichte.
Ich beneide Annemarie Schimmel darum, noch so gut wie fraglos und selbstverständlich in diesem Zusammenhang gelebt und gewirkt zu haben. Uns späteren ist das versagt. Der nicht zuletzt als weltanschaulicher Kampf geführte Kolonialismus, also das Streben nach europäischer Vorherrschaft; der weitgehend erfolgreiche Versuch der Durchsetzung einer hegemonialen, zuweilen auch totalitären Aufklärungsmoderne; der damit allzu oft einhergehende Rassismus und die spätere, nur zu berechtigte Kritik daran, für die der erwähnte Edward Said steht, haben bewirkt, dass wir uns heute nicht mehr ohne weiteres in diese Tradition einreihen können, wie es Annemarie Schimmel noch möglich war.
Wenn wir hundert Jahre nach Annemarie Schimmels Geburt auf ihr Werk schauen, ist das der Graben, den zu überwinden wir versuchen müssen, sofern uns an einer lebenswerten gemeinsamen Zukunft gelegen ist. Annemarie Schimmel zu lesen ist die beste Vorschule dafür.
Quellen:
1 Vortrag vor der Universitätsgesellschaft Erfurt, gehalten in der Königin-Luisen-Schule Erfurt am 23.4.2022 zur Feier des 100. Geburtstags von Annemarie Schimmel.
2 Am 25. September 1943 war sie mit Annemarie von Gabain Protokollführerin der jährlichen Mitgliederversammlung der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, wie die ZDMG, Band 97, Heft 2 von 1943 auf S. 357 festhält.
Dr. habil. Annemarie von Gabain (1901-1993) war Turkologin und Lehrerin von Annemarie Schimmel während der Kriegszeit. Ihre spätere Karriere litt unter ihrer Mitarbeit bei wissenschaftlichen Projekten mit NS-Agenda. Zwischen 1950 und 1966 war sie außerordentliche Professorin an der Universität Hamburg. Näheres über A.v. Gabain unter: https://berlingeschichte.de/bms/bmstxt99/9906proe.htm. Ferner: Annemarie Schimmel: Mein west-östliches Leben. C.H. Beck Verlag, München 2002, S. 48f.
3 Die umfangreiche Koran-Auswahl und eigenständige Übersetzung unter dem Titel „Der Koran für Kinder und Erwachsene“ von Lamya Kaddor und Rabeya Müller, C.H. Beck Verlag 2008, verdient in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt zu werden.
4 Annemarie Schimmel: Zeitgenössische arabische Lyrik. Horst Erdmann Verlag, Tübingen 1975.
5 Stefan Weidner (hrsg. und übers): Die Farbe der Ferne. Moderne arabische Dichtung. C. H. Beck Verlag, München 2000.
6 dazu näher: Stefan Wild: Der Friedenspreis und Annemarie Schimmel: Eine Nachlese. In: Die Welt des Islams, Vol. 36, Issue 1 (Mar., 1996), S. 107-122. Sowie über die größeren zeitgeschichtlichen Hintergründe: Kai Hafez: Das Islambild in der deutschen Öffentlichkeit. In: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte. Heft 5, 1996, 43. Jahrgang, S. 426-432.
7 Stefan Weidner: Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart. Hanser Verlag, München 2021.
8 Edward Said: Orientalism. Pantheon Books, New York 1978.
9 Novalis: Werke, Band 2, hrsg. von Hans-Joachim Mähl, Hanser Verlag, München 1978, S. 764.
10 Athenaeum, Band 3, S. 103.
11 in: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke, hrsg. von Josef Nadler, Herder Verlag, Wien 1950, S. 197.
12 Aus dem „Schi King Vorspiel“, Band I, S. 341 in der von A. Schimmel herausgegebenen zweibändigen Rückert-Auswahl im Insel Verlag, Frankfurt 1988.
13 AS: Mein west-östliches Leben. C.H. Beck Verlag. München 2002, S. 27, S. 31.
14 Nizami: Das Alexanderbuch. Übersetzt von Johann Christoph Bürgel. Manesse Verlag, Zürich 1991.
15 Zit. nach Gerhard Wehr: Meister Eckhart, Rowohlt Verlag, Reinbek 1979, S. 125.
16 Annemarie Schimmel: Mein west-östliches Leben. C.H. Beck Verlag, München 2002, S. 16.
17 Novalis, Sämtliche Werke, Hanser Band 2, S. 233.
18 Ebd. S. 235.
19 Athenaeum, S. 3. Band, S. 103.
20 AS: Mein west-östliches Leben. C.H. Beck Verlag 2002 S. 16, S. 33.
Stefan Weidner
ist ein deutscher Islamwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer. Er war Direktor des renommierten Magazins „Fikrun wa Fann“. Er rezensiert zahlrei- che Zeitschriften und Bücher und ist Mitglied des Beirats des Divan Kulturmagazins sowie Rezensent der deutschen Ausgabe dieses Magazins. 2018 wurde er mit dem Sheikh Hamad Award for Translation and International Understanding ausgezeichnet.