Die Schriftstellerin Leila Aboulela zählt zu den wichtigsten afrikanischen Literatinnen, deren schriftstellerischen Werke über die muslimische Frau, islamische Kultur und Werte der westlichen Modernität weite Bekanntheit erreichen konnten.
Unter diesen Werken befinden sich ”Die Übersetzerin” (1999), ”Das Minarett” (2005), ”Die Gasse des Sängers” (2010), ”die Großzügigkeit der Feinde” (2015), ”Der Wiedehopf …, wenn er erzählt” (2019) und neuerdings ”Der Geist des Flusses”. Viele dieser literarischen Werke gewannen arabische und internationale Preise und viele dieser Romane, die allesamt auf Englisch geschrieben wurden, wurden in mehr als 15 Sprachen übersetzt, darunter wurden zwei Romane ins Deutsche übersetzt: ”Die Übersetzerin” und ”Das Minarett”.
In diesen schriftstellerischen Werken zielt Leila Aboulela darauf ab, das Bild der muslimischen Frau darzulegen. Das Narrativ basiert auf den Geschichten gewöhnlicher muslimischer Persönlichkeiten, die unter den islamisch geprägten arabischen Staaten und multikulturellen westlichen Gesellschaften umherreisen. Diese werden als gewöhnliche Personen dargestellt, die gegenüber der islamischen und der westlichen Kultur unterschiedliche Einstellungen vertreten. Während das Narrativ indirekt den historischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontext im Westen und, nachdem sie in den Westen gereist sind, den psychischen Wandel der muslimischen Protagonistinnen hin zur Ausübung des Islams widerspiegelt, zeigen die Protagonistinnen allgemein kein Interesse an dem politischen ideologischen Kampf zwischen dem Osten, ”dem Islam”, und dem Westen. Demnach weisen auch kein qualitatives Wissen über die religiösen Auslegungen des Korans und der islamischen Lehren auf.
In ihrem jüngsten historischen Roman ”Der Geist des Flusses”, welcher unlängst auf Englisch im Verlag Dar Al Saqi Verlag in London veröffentlicht wurde, schlägt Aboulela einen anderen Weg ein. In ”Der Geist des Flusses” ist das Narrativ eng mit dem politischen und religiösen Kontext verknüpft, wodurch die islamische Kultur und die islamischen Werte im neunzehnten Jahrhundert aus verschiedenen Perspektiven neu vorgestellt werden sollen. Die Geschehnisse des Romans, der in 27 Kapitel aufgeteilt ist, thematisieren die Reise der Hauptcharaktere, bei denen es sich sowohl um historische als auch um fiktive Charaktere handelt, zwischen Sudan, Ägypten und Europa im neunzehnten Jahrhundert. Sie beschreiben, wie bei der europäischen Kolonialisierung des Ostens, den andauernden Kampf um die politische und religiöse Macht zwischen den Vertretern des Osmanischen Reichs im Sudan und der ”sudanesischen” religiösen Persönlichkeit Mohammed Ahmed al-Mahdi bin Abdullah (1843-1885), der als al-Mahdi bezeichnet wird. Mit seinen Anhängern auf der einen Seite, und den Kampf um die Bedeutung der Moderne mit ihren Werten und die Darstellung der sudanesischen Kultur und der muslimischen Frau allgemein im Westen, auf der anderen Seite.
Rabiha al-Kananiya: Zwischen den fliehenden muslimischen Königinnen, den unterdrückten Frauen und der Politik
Der Roman ”Der Geist des Flusses” beginnt mit einer kurzen Einführung, in der der Leser direkt in die Geschehnisse des Romans eintaucht, da eine wilde Schlacht zwischen den sich im Roman bekriegenden Parteien im vollen Gange ist. Zum Schock des Lesers, insbesondere des europäischen Lesers, beginnt der Roman mit der Geschichte einer muslimischen Kriegerin, die unerschrock- en ihren Glauben und ihre Heimat gegen den Kolonialisten und den Besatzer verteidigt. Der Ro- man beginnt mit der Erzählung der historischen Ereignisse, die sich im Jahr 1881 im Nuba-Gebirge abgespielt haben, und stellt den Kampf zwischen dem türkischen Herrscher der Region Faschoda, ”Rashid Bak Aman” und den ihm treu gegenüber- stehenden Stämmen und den Mächten des Mahdi und seiner Anhänger dar. Obwohl die türkischen Mächte den Truppen al-Mahdis im Hinblick auf Truppenstärke und der Ausrüstung überlegen sind, endet der Kampf mit einer verheerenden Niederlage für die türkische Seite, bei der der türkische Herrscher und seine Anhängerschaft getötet wurden. Die Mächte al-Mahdis siegen und verstärken ihre Präsenz im Sudan. Dieser historische Sieg für die Truppen al-Mahdis ist in erster Linie auf eine Dame zurückzuführen, die ”Rabiha al-Kananiya” genannt wird. ”Rabiha” ist eine Dame, die wusste, dass die türkischen Mächte al-Mahdi und seine Anhänger überraschen würden um sie zu töten. Somit verließ sie ihr Dorf um die Mächte al-Mahdis zu warnen und konnte somit den Verlauf der Schlacht und der Geschichte der Region insgesamt verändern.
Aboulela stellt die historische Person ”Rabiha al-Kananiya” als Ehefrau und Mutter dar, die ihre Töchter ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns zurückgelassen hat, um das Dorf zu verlassen, welches von den türkischen Mächten belagert wird, sodass keinerlei Nachrichten über den Überraschungsangriff gegen die ”Rebellen”, die Truppen al-Mahdis, entweichen. ”Rabiha” durch- quert die Wälder und gefährliche Orte, in denen wilde Tiere und giftige Reptilien leben, und reist zum Aufenthaltsort al-Mahids und seiner Truppen. Auf ihrem Weg trifft sie auf eine Konfrontation mit einem Krieger der Mächte, die dem türkischen Herrscher treu sind, und tötet ihn. Als sie den Aufenthaltsort al-Mahdis erreicht besteht ”Rabiha”, trotz ihrer Schmerzen durch den Biss einer giftigen Schlange, den sie auf ihrem Weg erlitten hat, darauf, al-Mahdi selbst zu treffen, um ihm die Kunde zu überbringen. Die Geschichte von ”Rabhia al-Kananiya” endet damit, dass sie auf ihrem Sterbebett liegt und von ihren Töchtern und ihrem Ehemann umgeben ist, welcher vom Aufruf al-Mahdis nicht überzeugt war. Vor ihrem Ableben lehnt sie ab, dass er von ihm verlangt, ihr zu verzeihen, dass sie ohne seine Erlaubnis ihr Zuhause verlassen hat, um al-Mahdi zu helfen.
Auf diese Weise stellt der Roman ”Rabiha” als eine starke Persönlichkeit dar, deren Meinung und Taten auf dem beruhen, was sie selbst gehört und gesehen hat. Rabiha ist von der Persönlichkeit al-Mahdis und seiner Art und Weise beeindruckt, mit der er dazu aufruft, nicht weiter am materialistischen Leben und Konsumdenken festzuhalten, die die Sultane und Herrscher über die Muslime und auch der ”zivilisierte” europäische Mann angenommen haben. Sie ist vom Aufruf al-Mahdis überzeugt, gegen den europäischen Besatzer und die korrupten muslimischen Herrscher zu kämpfen, die die Reichtümer der Länder ausnutzen und das Volk unterdrücken. ”Rabiha” erscheint als Waise, deren Mutter krank und arm verstarb, und deren Vater aus Überwältigung durch die erdrückenden Steuern starb, die den Bauern von den korrupten türkischen Besatzern erbarmungslos und ohne Rücksicht auf ihre Umstände und ihre Armut, auferlegt wurden.
Durch den Charakter ”Rabiha al-Kananiya” antwortet Abouela auf die kolonialistischen Darstellungen in denen die muslimische Frau vorherrschend mit Kopftuch und äußerlich dargestellt wurde. Damit soll die ”Irrationalität” und die Unterdrückung der Frau im Islam scharf kritisiert werden, da in den Schriften der europäischen Weltenbummler bis zum siebzehnten Jahrhundert das andere Bild in Vergessenheit geriet. In dieser Darstellung erscheint die starke muslimische Frau, die eine eindeutige Rolle in der Veränderung des Verlaufs von politischen Ereignissen spielt, was im Kontrast zum europäischen Frauencharakter steht, den die Praxis als sexuell-konservative Frau darstellt, die ihrem Ehemann oder Bruder folgt und gehorcht, so wie wir es beispielsweise in den Erzählungen des zwölften Jahrhunderts in ”Historia Ecclesiastica” (1130-1135), ”Bevis of Hampton” (ca. 1324) oder dem bekannten Theaterstück ”The Renegado” (ca. 1624) von Philip Massinger sehen.
Im Roman ”Der Geist des Flusses” und als Antwort auf all diese Darstellungen in den Schriften der Weltenbummler und den kolonialistischen Werken, schildert Abouela hier die Charaktere als gewöhnliche muslimische Frauen dar, die ihre Ehemänner wertschätzen, aber in erster Linie dem Islam und seinen Lehren folgen, die das Recht unterstützen, und die die Reichtümer ihrer Länder und ihre Rechte bewahren, selbst wenn sie mit männlichen Kriegern kämpfen müssen. Sie schildert sie hingegen nicht als muslimische Prinzessinnen, die mit dem christlichen Helden aus Europa und dem Reichtum ihrer Väter vor dem Islam und seiner Mangelhaftigkeit hin zum Christentum fliehen, um gehorchende Ehefrauen und konservative Frauen zu werden. Im Einklang mit einer objektiveren Darstellung gibt sie die komplexe Realität wider, die in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wettbewerben ver- wurzelt ist. Der Roman präsentiert nicht nur ein einziges Bild der muslimischen Frau gegenüber der türkischen Präsenz und der ”Revolution des al-Mahdis” im Sudan oder der Auslegung des Islams und seiner Werte innerhalb der unter Besatzung lebenden sudanesischen Gesellschaft, sondern beschreibt gelehrte muslimischen Frauen, die lesen können, wie etwa der Charakter ”Saliha”, die Ehefrau von ”Yasin”, der an der al- Azhar Universität studiert hat. Sie ist die Tochter einer reichen muslimischen Familie, die sie zu den Schreibern schickt, damit sie den Koran und Lesen und Schreiben lernt. ”Saliha” diskutiert mit ihrem Ehemann und mit den Leuten um sie herum über ihre Meinungen und scheint die Anrede ”Mohammed Ahmed al-Mahdi bin Abdullah” abzulehnen. Denn sie erlebt ihn als eine Persönlichkeit, die Ansprüche erhebt, extremistisch ist und nicht den wahren Islam repräsentiert, auch wenn er behauptet, die Verwirklichung von Gerechtigkeit in den islamischen Ländern voranzutreiben.
Der europäische Maler, Politik und die muslimische Frau
Die Darstellung der muslimischen Frau in der westlichen Kunst durch Ölgemälde und Erin- nerungsbilder zählen zu den wichtigsten Methoden, durch die der Orient und die islamische Kultur in der europäischen Fantasie illustriert wurden. Tatsächlich handelt es sich hierbei jedoch um eine Rhetorik, die politischen Interessen und Ideologien dienen, insofern als diese Werke seit dem neunzehnten Jahrhundert und bis heute als Vorwand für kolonialistische und imperialistische Projekte in der Region erachtet werden. In diesen künstlerischen Werken, von denen einige immer noch in bekannten europäischen Museen ausgestellt werden, beispielsweise etwa im Louvre in Frankreich, darunter das Gemälde ”Die Frauen Algeriens in ihrem Flügel” von Delacroix oder ”Das türkische Bad” vom französischen Maler ”Jean Auguste Dominique Ingres, erscheinen die muslimischen Frauen, wie sie in Unterwäsche oder komplett nackt auf Kissen liegen. Diese muslimischen Frauen repräsentieren das Bild der muslimischen Frau, die im Harem (dem Privatabteil für Frauen) zurückgezogen leben und darauf warten, die sexuellen Gelüste eines muslimischen Mannes zu stillen. Aus diesem Gr- und musste der ”zivilisierte” weiße europäische Mann aufbrechen, um sie vor dem Islam und dem ”groben und sexuell unstillbaren” muslimischen Mann zu retten. Jene Darstellungen wurden kritisiert, da sie einerseits den sexuellen Inspirationen des europäischen Mannes und andererseits seinem Wunsch, die muslimische Frau zu beherrschen, Ausdruck verleihen. Zusätzlich dazu handelt es sich dabei um die erfinderische Fantasie dieser europäischen Maler, die niemals einen „Harem” betreten haben, so wie es die verstorbene marokkanische Soziologin und Feministin Fatima Mernissi in ihrem Buch ”Seid ihr gegen den Harem immun” erwähnt hat. Außerdem sind sie sogar von Bildern inspiriert, die die kolonialistischen Europäer in Fotostudios von Frauen im Osten gemacht haben. Diese repräsentieren nicht das wahre Leben, so wie uns der algerische Dichter und Literaturkritiker Malek Alloula in seinem Buch ”Der kolonialistische Harem” wissen lässt.
In diesem Kontext vergegenwärtigt der Roman ”Der Geist des Flusses” diese kolonialistische Rhetorik durch die Geschichte des Hauptcharakters ”Akwani”. Sie ist ein mutterloses Mädchen, die in einem der Dörfer im Süden des Sudan geboren wurde und um die sich ein Händler aus Khartum, ”Yasin”, kümmert, nachdem ihr Dorf zerstört und ihr Vater getötet wurden Dies geschah durch eine Gruppe, die Frauen und Männer aus den südlichen Regionen des Sudan entführen, um sie im Norden als Sklaven zu verkaufen. Yasin lässt ”Akwani” und ihren Bruder ”Paul” bei seiner Schwester ”Halima” in der ”Sklavenregion”, ehe er sich dem Handel entsagt und nach Ägypten reist, um an der al-Azhar Universität zu studieren. „Halima” ist allerdings dazu gezwungen ”Akwani” an die Ehefrau des türkischen Herrschers ”Nazli Hanem” zu verkaufen. An dieser Stelle taucht der Leser in die Welt des Harems und der sexuellen Zwangsarbeit ein, denen die Frauen im Palast des türkischen Herrschers ausgesetzt sind. Hiermit ergänzt Abouela Informationen zur Familie ”Yasins”, die als Vertreterin des allgemeinen Volks zu erachten ist, wo Monogamie, Liebesbeziehungen zwischen den Ehegatten und gewöhnliches Familienleben vorherrschen.
Akwani erinnert sich an dieses Bild der muslimischen / sudanesischen Familie, das der europäischen Mehrheit nicht zwangsweise bekannt sein wird, als sie gezwungen wird vor ”Robert” zu sitzen, dem schottländischen Maler, der wünscht ein Bild von ihr zu zeichnen. Dadurch erzeugte er ein starres Bild der sudanesischen / muslimischen Frau in der Fantasie und in den Köpfen der Europäer, nachdem er es an seine Tochter ”Kristin” nach Europa schickt, die danach durstet, den wundersamen entfernten Osten zu sehen, insbesondere verkörpert in seinen Frauen.
In einer Antwort auf diese orientalistischen Darstellungen taucht der Leser mit Abouela in eine Region ein, die insbesondere die Frauen betrifft. Er sieht die Schönheit der sudanesischen Frau in ihren Zöpfen, ihrer Tätowierung, ihren Reinigungsritualen und in der Verzierung ihres weiblichen Körpers. Hier befinden sich Schönheitsprodukte, wie etwa Kuhl, Henna und Öle, mit denen die Haut befeuchtet wird, zu deren Gebrauch die versklavte Frau im Palast des türkischen Herrschers gezwungen wird, aber die auch von der muslimischen / sudanesischen Frau verwendet werden, um sich persönlich zu säubern und sich für ihren Ehemann schön zu machen. Die Erzählung lässt uns diesen privaten Ort betreten, ohne dass wir sexuelle Darstellungen oder Suggestionen sehen, die der europäische Leser hinter den Wänden des Harems erwarten würde, so wie es die meisten kolonialistischen literarischen Werke oder orientalistischen Gemälde darstellten. Wir sehen auch, dass die muslimische sudanesische Frau farbige Kleider trägt, aus dem Haus geht, um auf dem Markt zu kaufen und zu verkaufen und ihre Kinder nach dem Tod ihres Ehemanns ohne Hilfe großzieht und unterrichtet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ”Der Geist des Flusses” ein literarisches Werk ist, das die sudanesische / muslimische Frau darstellt, die sich zwischen den Parteien befindet, die seit dem neunzehnten Jahrhundert und bis heute um die ideologische und politische Macht zwischen Osten und Westen kämpfen. Dabei wird versucht, eine ernste Diskussion über die Vielseitigkeit und Verflochtenheit der Gründe und Erscheinungsformen des Leidens der Frauen hervorzurufen, weit weg von den Repräsentationen, die unpräzisen politischen und ideologischen Rhetoriken dienen, das Leiden der muslimischen Frau nur noch vertiefen und den Rassismus und die Spaltung im Orient oder in der Diaspora in Europa verstärken. Diese wird nämlich weiterhin meistens als Modell für einen bilateralen Vergleich verwendet, der die ”unterdrückte” muslimische Frau und den ”ungerechten und rückständigen” Islam der ”emanzipierten” westlichen Frau und dem ”gerechten christlichen und säkularen” Westen gegenüberstellt.
Dr. Amany Alsiefy
Ägyptische Akademikerin, Lektorin und Forscherin, die in Deutschland ansässig ist. Sie führte ihre kulturellen und literarischen Studien über die post- koloniale Literatur, der Säkularisierungstheorie, der Umweltkritik und der Schönheitsideale in feministischen Texten an deutschen und europäischen Universitäten durch.