Wie man einen „Staat“ definiert, lernen Studierende der Politikwissenschaft im ersten Semester anhand der Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek. Gemäß dieser Theorie braucht es für die Existenz eines Staates ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsmacht.
Diese Definition wird häufig als unzureichend kritisiert; den einen fehlt das Element der Verfassung, anderen die völkerrechtliche Vertretung, wiederum anderen die Anerkennung durch andere Staaten. Doch was passiert, wenn sich konkurrierende (Staats)Mächte uneins sind? Wer bestimmt, wer zum Staatsvolk gehört, wo das Staatsgebiet des einen endet und wer über welches Volk und welches Territorium die Macht hat? Oder: Was, wenn die Individuen, aus denen sich das Staatsvolk zusammensetzt, ihre Stimme erheben?.
Das marokkanische Königshaus besetzt seit dem Grünen Marsch vom 6. November 1975 das Gebiet der Westsahara. Nachdem Spanien seine Ansprüche auf die einstige Kolonie „Spanisch-Sahara“ fallen gelassen hatte, annektierte das nordafrikanische Königreich durch den staatlich orchestrierten und zivilgesellschaftlich ausgeführten „Grünen Marsch“ das Gebiet südlich von Marokko und marokkanisierte es im Laufe der Jahre durch staatliche Siedlungsstrategien. Seitdem wird die Westsahara durch die Betitelung als „südliche Provinzen“ oder „marokkanische Sahara“ in königlichen Reden auch rhetorisch von der marokkanischen Staatsmacht vereinnahmt. Militärische Präsenz durch marokkanische Sicherheitskräfte setzt die Annexion des Gebiets bis heute durch. Durch diverse Taktiken hat die marokkanische Regierung das von den UN geforderte Referendum zur Bestimmung des Status des Gebiets bislang verhindert.
Seit 1991 nach Jahren der kriegerischen Auseinandersetzung ein Waffenstillstand verhängt wurde, kommt es immer wieder zur Konfrontation zwischen der Polisario und marokkanischen Sicherheitskräften
Den Territorialansprüchen Marokkos steht die Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguia El Hamra y Río de Oro) feindlich gegenüber. Seit 1991 nach Jahren der kriegerischen Auseinandersetzung ein Waffenstillstand verhängt wurde, kommt es immer wieder zur Konfrontation zwischen der Polisario und marokkanischen Sicherheitskräften. Die Polisario beansprucht die Vertretung der Sahrauis, der Bevölkerung des Gebiets der Westsahara. Zu diesem Zweck hatte sie 1976 aus dem algerischen Exil die Demokratische Arabische Republik Sahara ausgerufen, als Staatsterritorium und Staatsmacht für das Staatsvolk der Sahrauis. Dem gegenüber steht die marokkanische Definition der Sahrauis: „Sahrauisch“ ist gemäß der marokkanischen Verfassung von 2011 eine von vielen ethnischen oder kulturellen Komponenten der marokkanischen Identität und somit gehören die Sahrauis zum marokkanischen Staatsvolk innerhalb der Grenzen, die das Königreich durch den Grünen Marsch geltend machte.
Natürlich wirken sich die politischen Vorstellungen des Staatsterritoriums auf die Menschen aus: Wer von klein auf mit marokkanischen Landkarten aufwächst, die die Westsahara als Teil des Königreiches abbilden, hält die Zugehörigkeit des Wüstengebiets zur eigenen Heimat für selbstverständlich. Zu der Darstellung der Staatsgrenzen durch die Staatsmacht gesellt sich eine kulturelle Komponente, die die „Marocanité“ (maġribīyat aṣ-ṣaḥrā) der Sahara nicht nur zementiert, sondern zelebriert. Sinnbildlich für diese kulturelle Verankerung des Grünen Marsches in den Köpfen der Menschen ist die Musik und Lyrik des Grünen Marsches, die Kunstschaffende nach dessen Ankündigung durch den damaligen König Hassan II. kreierten. Ein Beispiel ist das Lied Nida al-Hasan (der Ruf Hassans), das die marokkanische Zeitung Anfaspress als „zweite Nationalhymne“ Marokkos (an-našīd al-waṭanī t-tānī) bezeichnete. Bei verschiedensten gesellschaftlichen Anlässen wird das Lied gesungen; im Stadion oder bei Schulfesten. Marokkanische Musiker*innen wie Jbara laden bei YouTube moderne Coverversionen des Liedes hoch. All dies macht deutlich, wie tief der Gedanke der „Marokkanität“ der Sahara in der marokkanischen Gesellschaft verwurzelt ist und wie prägend das nationale Ereignis des Grünen Marsches für die Geschichtsschreibung und gesellschaftliche Identität des Königreiches ab 1975 wurde.
Musik und Poesie radikalisieren den Konflikt nicht zwangsläufig. Doch sie verankern die Denkstrukturen, die der Grüne Marsch zementiert hat, im kollektiven Gedächtnis der Marokkaner*innen und lassen sie als naturgegeben erscheinen
Die Westsahara-Frage vereint dabei sogar Oppositionelle mit Befürwortenden der Regierung. Das zeigt die marokkanische Band Jil Jilala, die lange als Protestgruppe bekannt war und trotzdem durch ihr Lied al-ʿUyūn ʿAynīyā, das Regierungsprojekt des Grünen Marsches künstlerisch unterstützte. Viele fanden das unglaubwürdig. Allerdings: Vor Hassan II. hatte schon sein Vater und Vorgänger Mohammed V. die Forderung nach der Westsahara vertreten. Dieser hatte sie wiederum von der Oppositionspartei al-Istiqlāl übernommen, die die Idee eines „Großmarokko“ bereits in den 1950ern verbreitet hatte. So lässt sich erklären, dass auch eine Protestband der Regierungslinie folgte. Mit den Worten des Bandmitglieds Mohamed Derhem: „Gibt es einen Marokkaner, der gegen die territoriale Einheit ist?“
Diese Lieder des Grünen Marsches, Nidāʾ al-Ḥasan und al-ʿUyūn ʿAynīyā, bedienen verschiedene Register, die der Legitimierung des Grünen Marsches dienten. Beide greifen indirekt den Gedanken der Heimat auf, zu der die Westsahara zwingend dazugehöre – wobei al-ʿUyūn ʿAynīyā vor allem eine emotionale, familiäre Bindung an die Sahara illustriert, wohingegen Nidāʾ al-Ḥasan die Heimat synonym zur Nation darstellt. Diese Lieder lassen sich nicht königliche Regierungspropaganda abtun. Sie wurden nicht von staatlichen Stellen in Auftrag gegeben. Vielmehr fühlten sich Jil Jilala und Komponist Abdellah Isami durch die königlichen Reden zum Grünen Marsch inspiriert, dieses nationale Ereignis musikalisch zu begleiten.
Gesungen von einem Chor, der als Sinnbild für das Volk steht, wirkt Nidāʾ al-Ḥasan schon in seiner Aufmache wie eine Nationalhymne, weshalb es laut der marokkanischen Zeitung Hespress „zu einem Lied für alle Marokkaner“ wurde. Im Unterschied zur tatsächlichen marokkanischen Nationalhymne ist das Lied jedoch nicht im Hocharabischen, sondern im marokkanischen arabischen Dialekt Dāriǧa verfasst. Dadurch werden nicht nur mehr Menschen in Marokko durch das Lied erreicht. Die Verwendung des Dialektes zeigt auch: Es geht um Marokko, es geht um unser Land, unser Volk, unsere Heimat.
Nidāʾ al-Ḥasan appelliert hauptsächlich auf drei inhaltlichen Ebenen an die Marokkaner*innen; islamisch-religiös, patriotisch-heimatverbunden und politisch-fordernd. Diese Ebenen greifen dabei ineinander über, da Islam und Politik in Marokko miteinander verknüpft sind und sich das marokkanische Königshaus beispielsweise als alawidische Dynastie legitimiert. Die Verbundenheit zum eigenen Land und der Zusammenhalt des Staatsvolks, das in der marokkanischen Interpretation auch die Sahrauis einschließt, wird durch die Verwendung entsprechender Pronomen betont: „Freu dich, mein Land, du bist jetzt frei“, „Der Grüne Marsch erfüllt unser Ziel“, „Wir tragen das Buch Gottes und unser Weg ist recht“. In dem Lied darf der König selbstverständlich für die Sahara sprechen, da für die Sänger*innen und den Komponisten klar ist, dass die Sahara auch ihre Heimat sei: „Sahara, die Stimme Hassans ruft durch dich“. Der Grüne Marsch dient der Aufrechterhaltung der Blutsverwandtschaft, die eine islamische Pflicht ist. In Nidāʾ al-Ḥasan wird beschrieben, dass Familien nach dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft endlich wiedervereint werden: „Wir schulden unseren Brüdern in der Sahara einen Verwandtschaftsbesuch“. Der Chor singt, dass die Tore der Sahara dafür offenstehen. Dies impliziert, dass die Sahrauis die Marschierenden gerne empfangen. Eine gewaltvolle Annexion ist in dieser Rhetorik unmöglich. Vielmehr erscheint der Grüne Marsch als gewaltfreies „Wunder der Zeit“, das die „Geschichte des Ruhmes der Nation“ oder der Heimat (al-waṭan) fortschreibt.
Zwar unterstützt al-ʿUyūn ʿAynīyā dasselbe Ziel wie Nidāʾ al-Ḥasan, jedoch wirkt das Lied weniger kollektiv-nationalistisch, sondern appelliert auf eher individuell-emotionalen Ebene an die Zuhörenden. Man scheint einem Marschteilnehmer zuzuhören, der glücklich ist, an der Wiedervereinigung seines Landes teilzuhaben. Politische Ansprüche und religiöse Bezüge bleiben auch hier deutlich, etwa wenn es heißt: „Unser Glauben zerstört alle ungeheuren Tyrannen / Auf meinem Land, mein Herr, auf meinem Land“. Ganz deutlich wird der Anspruch auf die Sahara im Refrain des Liedes: „Die Augen, meine Augen / Der rote Bach gehört mir / Der Fluss ist mein Fluss, mein Herr“. Im Sinne der Lyrik wurde as-sāqiya l-ḥamrāʾ bildlich als „roter Bach“ übersetzt. Gemeint ist jedoch das Gebiet Saguia El Hamra, das zusammen mit Río de Oro, dem „Fluss“, das Territorium der Westsahara bildet. Und mit den „Augen“ ist die Stadt Laayoune gemeint. Im Refrain wird also ein unbekannter Herr (yā sīdī) belehrt, dass die Gebiete und die größte Stadt in der Westsahara „mir“ gehören – deutlicher kann ein Anspruch nicht formuliert sein.
Die Westsahara-Frage vereint dabei sogar Oppositionelle mit Befürwortenden der Regierung. Das zeigt die marokkanische Band Jil Jilala, die lange als Protestgruppe bekannt war und trotzdem durch ihr Lied al-ʿUyūn ʿAynīyā, das Regierungsprojekt des Grünen Marsches künstlerisch unterstützte
Angesichts der Rhetorik dieser Lieder scheint die Sache für viele Marokkaner*innen, die die Ziele sahrauischer Unabhängigkeitsaktivist*innen nicht kennen oder nicht unterstützen, eindeutig: Das Staatsgebiet Marokkos umfasst auch das Gebiet der („marokkanischen“) Sahara und zum marokkanischen Volk gehören auch die Menschen, die auf diesem Gebiet leben. Für sahrauische Aktivist*innen oder Polisario-Mitglieder sieht die Situation anders aus: Sie fordern einen unabhängigen Staat im Gebiet der Westsahara für das sahrauische Volk, das sie in Abgrenzung von Marokko nicht ethnisch-kulturell, sondern national oder nationalistisch definieren. Jil Jilala sowie Abdellah Isami und seinen Mitstreiter*innen stehen die sahrauische Dichterin Al Khadra Mabrook oder deren Enkelin, die Musikerin Aziza Brahim, gegenüber. Sie bezeichnen die Westsahara und nicht Marokko als ihre Heimat, für deren Unabhängigkeit sie sich künstlerisch einsetzen, bis auch sie ein Staatsvolk mit einem Staatsterritorium sind, um das sie nicht mehr mit der marokkanischen Staatsmacht konkurrieren müssen.
Musik und Poesie radikalisieren den Konflikt nicht zwangsläufig. Doch sie verankern die Denkstrukturen, die der Grüne Marsch zementiert hat, im kollektiven Gedächtnis der Marokkaner*innen und lassen sie als naturgegeben erscheinen. Sie sind der kulturelle Klebstoff, der das marokkanische Volk zusammenhält. Demengegenüber stehen die Polisario und sahrauische Unabhängigkeitsaktivist*innen, die im Angesicht der marokkanischen Besatzung ihr eigenes Nationalbewusstsein schärfen. Welches der Narrative sich durchsetzt, hängt nicht zuletzt von der Tendenz der internationalen Gemeinschaft ab. Bis dahin wird Jellineks Theorie in der Sahara weiterhin wortwörtlich an ihre Grenzen geraten.
Quellen
Bayān al-Yawm (2020): Fī ḫiṭāb sām bi-munāsabat ad-dikrā l-ḫāmis wa-arbaʿīn li-l-masīra al-ḫaḍrāʾ.http://bayanealyaoume.press.ma
Anfaspress (06.11.2020): Malḥamat „Nidāʾ al-Ḥasan“. Aṣl ḥikāyat an-našīd al-waṭanī t-tānī l-ḫālid. https://anfaspress.com/news/voir
al-Ittiḥād al-Ištirākī (06.11.2009): Al-ʿUyūn ʿAynīyā llatī ʿabbaʾat aš-šaʿb al-maġribī. In: Maghress. https://www.maghress.com/alittihad
Šabbū, Al-Mahdī (09.11.2015): Nidāʾ al-Ḥasan: Usṭūrat uġniya. In: Hespress. https://www.hespress.com
Quellen Liedtexte:
Nidāʾ al-Ḥasan:
Anfaspress (06.11.2020): Malḥamat „Nidāʾ al-Ḥasan“. Aṣl ḥikāyat an-našīd al-waṭanī t-tānī l-ḫālid. https://anfaspress.com/news/voir al-ʿUyūn ʿAynīyā:
Burkāt, ʿAbd al-ʿĀlī (12.11.2019): Aġānī l-masīra l-ḫaḍrāʾ tušakkilu ǧuzʾan min dākiratina t-taqāfīya. In: Bayān al-Yawm. http://bayanealyao-ume.press.ma
Melina Aboulfalah
Deutsche Schriftstellerin und Journalistin. Sie hat Islamwissenschaft und Politologie an der Universität Münster studiert und einen Master in Arabistik und Translation an der Universität Bonn. Sie ist spezialisiert auf die Frage der Westsahara. Sie verbrachte eine Zeit ihres Lebens in Marokko und beherrscht den örtlichen Dialekt. Zur Zeit ist sie in Berlin als Journalistin tätig.