Der Theologe Martin Luther hat Anfang des 16. Jahrhunderts das Amtsverständnis seiner römisch-katholischen Kirche in Frage gestellt. Ein Priester, Bischof oder Papst hätten keinen besonderen Weihestatus, der sie über andere Gläubige erhebt, erklärte er. Davon sei in der Bibel nicht die Rede. Auch das Zölibat sei unbiblisch.
Und so erklärte Luther, jeder getaufte Christ sei Priester, Bischof, Papst. Er übersetzte die Bibel in die deutsche Sprache, damit alle selbst lesen können, was darin steht. Die deutschen Fürsten forderte er auf, Schulen für alle Jungen und Mädchen (!) zu gründen, damit sie lesen lernen. So kam es zu einem enormen Bildungsschub. Martin Luther wollte Reform, seine Kirche verändern. Aber es kam mit der Reformation zur Kirchenspaltung zwischen römisch-katholischer und der nun neuen lutherischen Kirche. Die Reformatoren heirateten demonstrativ, um zu zeigen: Das Zölibat ist bei uns abgeschafft. So wurde in den lutherischen Kirchendie Pfarrfamilie zum Zentrum der Gemeinde.
Im Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland viele Pfarrer zum Dienst an der Front eingezogen. Seit dem Jahr 1900 waren Frauen an deutschen Universitäten zugelassen und so hatten auch einige Theologie studiert. Sie übernahmen als so genannte Vikarinnen den Dienst in den Gemeinden. Als die Männer zurückkamen, wurden die Vikarinnen in ihren Aufgaben eingeschränkt, sie sollten jetzt nur noch Mädchen und Frauen unterrichten. Aber die Realität, dass sie als Pfarrerinnen ja de facto gewirkt hatten, liess sich nicht mehr auslöschen. Und es begann eine theologische Debatte um das Amt: Wenn jeder getaufte Christ Priester, Bischof, Papst ist, dann doch auch jede Christin. Am Ende wurde entschieden: Frauen können in lutherischen Kirchen Pfarrerin werden. Im Jahr meiner Geburt, 1958, wurde ganz offiziell als erste Pastorin ”im Sinne des Gesetzes” Elisabeth Haseloff in Lübeck ordiniert.
Allerdings meinte man, die Anforderungen als Ehefrau und Mutter seien mit der Verantwortung für eine Gemeinde nicht vereinbar. Es hieß im Gesetz: „Die Pfarrerin scheidet im Falle einer Verheiratung aus dem Dienst aus”. Warum eigentlich? Ich denke, es ging um nichttheologische Faktoren. Ein Mann unter der Kanzel seiner Ehefrau sitzend – ein für viele schwer zugängliches Bild. Oder ging es um die alten Fragen von Reinheit und Unreinheit? Sexualität, Schwangerschaft als Faktoren, die einen pastoralen Dienst nicht möglich machten? Oder schlicht die Auffassung, Berufstätigkeit und Familie seien für eine Frau unvereinbar?
Es ist deutlich, dass die gesellschaftliche Debatte auch die theologische Debatte beeinflusste. 1977 wurde das Gesetz abgeschafft, dass es einem Ehemann ermöglichte, seiner Frau die Berufstätigkeit zu untersagen. Und so fiel im selben Jahr auch die Zölibatsklausel für Pfarrerinnen. Als letzte Landeskirche in Deutschland hat 1991 die kleinste Landeskirche, Schaumburg-Lippe, die Frauenordination eingeführt.
Heute ist es in fast allen lutherischen Kirchen der Welt Normalität. Die Gemeinden schätzen Pfarrerinnen ebenso wie Pfarrer. In der Theologie hat die Beteiligung von Frauen die biblische Exegese wie den Blick auf Dogmatik, Kirchengeschichte und Praktische Theologie erweitert. Die großen Frauengestalten der Bibel, Sarah, Rahel, Deborah wurden intensiver wahrgenommen. Und in der Gemeindepraxis sind die Anliegen der Frauen stärker im Blick. Meist sind es Frauen, die die Gemeinden ehrenamtlich tragen.
1991 gab es noch einmal eine Debatte, als die Frage im Raum stand, ob eine Frau auch Bischöfin sein können. Die theologische Amtsdebatte machte klar: Gibt es Pfarrerinnen, kann es auch Bischöfinnen geben. Maria Jepsen wurde in Hamburg zur ersten lutherischen Bischöfin weltweit gewählt. Ich selbst folgte 1999. Da war noch einmal die Diskussion: Kann eine Mutter von vier Kindern Bischöfin sein? Aber sie war kurz und klar: Ja, das ist theologisch absolut vertretbar. Ich war elf Jahre lang Bischöfin der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Es war eine gute Amtszeit. Und ich denke, die Bilder haben sich klar verändert: Pfarramt und Bischofsamt können von Männern wie von Frauen wahrgenommen werden. Wir sind alle Kinder Gottes mit unterschiedlichen Begabungen. Und die bringen wir auch in leitende Ämter unserer Kirche gern ein. Das gilt übrigens nicht nur für Theologinnen. Zunehmend werden auch juristische Leitungsämter oder auch der Kirchenvorstandsvorsitz in einer Gemeinde vor Ort von Frauen übernommen. Das entspricht dem, was der Apostel Paulus in der Bibel an die Gemeinde in Galatien schreibt: ”Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch. Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus”.
Prof. Dr. Margot Käßmann
studierte Theologie in Tübingen, Edinburgh, Göttingen und Marburg. 1985 wurde sie ordiniert und schloss 1989 ihre Promotion an der Ruhr-Universität Bochum ab.Nach ihrer Tätigkeit als Pfarrerin und später Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages war die vierfache Mutter von 1999 bis 2010 Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. 2002 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Hannover. 2009/2010 war sie Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Ab August bis Dezember 2010 nahm sie eine Gastprofessur an der Emory-Universität in Atlanta (USA) wahr. In der Zeit von Januar 2011 bis März 2012 unterrichtete und forschte sie als Gastprofessorin für Ökumene und Sozialethik an der Ruhr- Universität Bochum (Max Imdahl-Gastprofessur). Von April 2012 bis Juni 2018 war sie als Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017 tätig.
Seit Juli 2018 ist Margot Käßmann im Ruhestand und widmet sich vor allem dem Schreiben von Büchern. Daneben engagiert sie sich in ausgewählten Projekten wie etwa dem internationalen Kinderhilfswerk terre des hommes oder dem sozialen Straßenmagazin Asphalt.