”Doha lächelt in dein Gesicht wie eine mitfühlende und besorgte Mutter, nicht alle Städte besitzen solch eine Großzügigkeit1”.
Der Leser taucht in die Tiefen dieses Romans ein, verschmilzt mit seinen Geschehnissen und Charakteren und durchstreift seine verflochtenen Fäden, um die Einzelheiten Dohas mit ihren komplexen und verblüffenden Dimensionen zu entdecken. Die Hauptstadt Qatars ist ein interessanter Hintergrund für die Geschehnisse, die geschickt aufgegriffen werden. Doha erscheint als eine Bühne für Entdeckungen und die Verwirklichung von Ambitionen. So formt die Stadt den Charakter der Protagonisten. Doha bietet im Roman reichhaltige Möglichkeiten zur beruflichen und persönlichen Entwicklung der Romanfiguren. Der Roman nimmt den Leser mit auf eine interessante und tiefgreifende Reise durch philosophische und emotionale Welten und untersucht geschickt die Einzelheiten vom Leben der Charaktere. Dies geschieht im Schatten der kulturellen und sozialen Veränderungen der modernen Gesellschaft.
Der Roman thematisiert die Geschichte eines reichen Mannes mittleren Alters, der zwischen Deutschland und Katar hin- und herreist. Der Protagonist trifft auf eine Gruppe von vielseitigen Charakteren, die aus verschiedenen Ländern und Kulturen nach Doha kommen. Der Roman behandelt die Träume dieser Charaktere, ihr Leiden, ihre Gewohnheiten und ihre Traditionen. Die Erzählung konzentriert sich hauptsächlich auf das Aufeinandertreffen des Protagonisten mit ”Aizat”, einer schönen Waisen aus Kirgistan, die, nachdem sie ihre Eltern jung verloren hat, ein schweres Leben führt.
Die Geschehnisse des Romans beginnen während der Corona-Pandemie, wobei der Lockdown als Hintergrund für die Geschehnisse dient. In den heißen Sonnenstrahlen im Juni beschleunigen sich die Ereignisse und verbinden sich eng mit anderen, was der Erzählung noch eine zusätzliche Komplexität verleiht: ”ohne Verabredung haben wir uns getroffen und kurz danach breitete sich die Pandemie aus. Meine größte Sorge ist es, die Geschehnisse aufzuzeichnen ehe die Welt in der Corona-Flut versinkt2”. Und an einer anderen Stelle: ”Im Juni wurde es immer heißer, und auch die Pandemie breitet sich weiter aus. Keiner weiß, wie sie enden wird und wann die Labore in der Lage sein werden, einen Impfstoff zu finden3”.
Hierauf nimmt uns der Roman mit auf einen Rundgang durch die alten Viertel Dohas, wo wir in den Gassen zwischen Häusern aus Lehm und Holz und den sich verändernden Sanddünen umherlaufen. Die Vergangenheit zeigt sich klar an den zerbröckelten Wänden und den alten Türen und Fenstern. Sie zeugen von einer Geschichte, die reich an Herausforderungen und Schwierigkeiten gewesen ist. Trotzdem decken jene Gassen einen weiteren Aspekt der Armut auf und liefern uns eine positive Blickweise auf das Leben, trotz der Herausforderungen. Hierbei treten Munterkeit, soziale Solidarität und geringer Lebensunterhalt, der mit Liebe und Zusammenhalt unter den Individuen der Gesellschaft gesegnet ist, in Erscheinung.
In einem anderen Kontext bringt uns der Roman in die modernen Viertel, wo sich die asphaltierten Straßen, großen Türme und Wasserinseln befinden. Der Autor Dr. Abdul-Hakim Shubat verbildlicht die kontinuierliche Lebensdynamik und den Tumult der Arbeit und der Entwicklung präzise. Wir zitierten diese schöne Beschreibung der Stadt aus dem Roman:
”An einem künstlichen See von mittlerer Größe, geschnitten aus dem Wasser des arabischen Golfs, zwischen den beiden Kreisen der künstlichen Perleninsel, wurde das al-Arqa Viertel zwischen den neuen Vierteln Dohas erbaut. Dort befinden sich gegenüberliegende Wohntürme, die entlang des Wassers stehen und mit den modernsten Mitteln des Komforts ausgestattet wurden, wie etwa Sporthallen, Innenpools, Parkhäusern, Anlegeplätzen für Yachten, Wasserkanälen, Brücken und schwimmenden Restaurants. Das Viertel wurde auch mit einer Gruppe der bekanntesten Handelsmärkte, internationalen Cafés und Parfüm- und Antiquitätenmuseen ergänzt. Es existiert also eine unendliche Anzahl von schönen Ausstellungen. Das neue Viertel sollte den Aufschwung und die Macht des reichen und jungen Emirats widerspiegeln und es auf das Niveau der reichen Weltstaaten erheben. Es wirkt wie ein gigantischer und magischer Dämon, der mit seinen beiden riesigen Händen das Meerwasser verdrängt und darüber Säulen aus Beton und Stein platziert. Er baut die Gebäude so hoch, dass sie schließlich die Vögel im Himmel bedrängen oder den Wolken im Weg stehen4”.
An einer anderen Stelle heißt es: ”An jedem Ort, wo auch immer man sein Gesicht hinwendet, ist ein touristisches Hotel, ein Handelsturm oder ein Sportplatz und zwischen ihnen befinden sich viele Gärten. Man sieht hier kaum Kamelumrisse, Luftspiegelungen oder Palmen, sondern nur einen üppigen und großen Baum, der durch Fortschritt und Zivilisation gesegnet wurde5”.
An einer anderen Stelle lesen wir diese Beschreibung: ”Die Sonne ist im Begriffe unterzugehen und die Luft an diesem Abend ist großartig. Von meinem Balkon aus beobachte ich die Bewegung des Golfs und dessen grünen Wassers. Von der anderen Uferseite präsentieren sich mir die edlen Häuser, die mit den schönsten Lampen verziert sind. Ich sehe den einsamen westlichen Strand , an dem nur alte Holzboote sind. Gleichermaßen genießt das Kulturviertel daneben die Ruhe, da die Menschen in ihren Häusern blieben. Sie bedrängen es am Morgen mit Arbeitern und Angestellten, am Abend mit Liebenden und mit Spaziergängern bei Nacht. Ich kann klar den gesamten Block der großen Türme inmitten von Al Dafna sehen, und wenn ich nach vorne blicke, sehe ich die Stadt Al-Wakrah. Davor erscheinen mir die Lichter des internationalen Flughafens6„.
Die Augen Aizats waren schräg und weit. Sie flimmern mit Schönheit wie die Augen aller türkischen Frauen aus Kirgistan. Wenn sie einen anschauen füllt einen ein Gefühl von Ehrfurcht, als würde man vor einer aufgescheuchten Wölfin stehen, die von einem Strahlenkranz aus Magie, Unklarheit und Herausforderung umgeben ist
Solchermaßen umarmen sich die Düfte der spirituellen Vergangenheit und der materialistischen Gegenwart, sodass sie gemeinsam die soziale und demographische Zukunft Dohas formen. Gruppen von ausländischen Arbeitern scharten sich im Laufe der letzten Jahrzehnte nacheinander in Doha und tun dies weiterhin mit den neuen Arbeiten und großen Projekten im ganzen Land. An dieser Stelle erscheint die Protagonistin des Romans, „Aizat”, deren Name ”Tochter des Monds” bedeutet. Der Name besteht aus zwei Teilen, der erste Teil „Ai” ist aus dem Türkischen und bedeutet „Mond”, und der zweiten Teil ”Zat” ist aus dem Persischen und bedeutet „Tochter”7. Möglicherweise hat der Autor diesen Namen gewählt, um die gemeinsame kulturelle, historische und zivilisatorische Verflochtenheit der Völker der Region aufzuzeigen. Die zum Arbeiten in der arabischen Stadt neuankommende junge Frau kommt aus Ostasien, und zwar aus Kirgistan, wo die asiatischen Einflüsse mit den türkischen, persischen und arabischen Einflüssen zusammenkommen.
”Die Augen Aizats waren schräg und weit. Sie flimmern mit Schönheit wie die Augen aller türkischen Frauen aus Kirgistan. Wenn sie einen anschauen füllt einen ein Gefühl von Ehrfurcht, als würde man vor einer aufgescheuchten Wölfin stehen, die von einem Strahlenkranz aus Magie, Unklarheit und Herausforderung umgeben ist8”.
Hierauf sehen wir, wie das Leben in einer aufgeschlossenen Stadt, in der Menschengruppen verschiedener Rassen, Kulturen und Religionen zusammenleben, dabei helfen kann, die Stellung der Frau zu verstärken und ihr Möglichkeiten zu eröffnen. Doha hat dazu beigetragen, Aizat von den tyrannischen sozialen und ländlichen Zwängen zu befreien, die in ihrem Land vorherrschen. Dort herrschen Bräuche der Eheschließung, bei denen die Frau entführt und gezwungen wird einen Partner zu heiraten, den sie weder kennt noch will. Diese soziale und kulturelle Vielfalt, die Doha bietet, hat effektiv dazu beigetragen, ihr Bewusstsein auf kultureller, beruflicher und persönlichen Ebene weiterzuentwickeln und ihre kognitiven Fähigkeiten und emotionalen Sinne zu fördern. Der Roman ”Aizat” zeigt uns, wie das Umfeld und die Möglichkeiten eine wichtige Rolle in der Veränderung vom Leben der Menschen und in der Verwirklichung von Ambitionen spielen kann. In Doha findet die Protagonistin des Romans den Ort, um ihre Bildung zu fördern und lernt dort auch den Willen nach Herausforderung kennen, der unter den neuankommenden Arbeitern in Katar und im Rest des arabischen Golfs verbreitet ist. Dadurch sollen die Selbstverwirklichung, der berufliche Erfolg und die Erlangung von Reichtum erreicht werden.
In den weiteren Geschehnissen trägt diese moderne und zivilisierte Stadt dazu bei, dass die Protagonistin des Romans in die Zukunft blickt und lenkt sie in Richtung Verwirklichung ihres Ziels, damit sie ihre Lebensumstände verbessern kann. Ihre Familie ist im armen und bergigen Heimatland zurückgeblieben. Es wird auch beschrieben, wie sie ihren Traum verfolgt, als Stewardess bei Qatar Airways mit einem ausgezeichneten Gehalt und guten gesundheitlichen und sozialen Arbeitsgarantien zu arbeiten. Der Roman beschreibt den Zustand der neuankommenden Frau:
”Sie ist in der Blüte ihres Lebens und hat ihre Familie und ihre Heimat verlassen, um ihren Traum zu verwirklichen und musste dabei viel erleiden. Das Leben erlegt uns nämlich häufig eine Bürde auf und lässt uns manchmal Dinge ertragen, für die wir keine Kraft haben. Auch mit der Ausbreitung der Corona-Pandemie hat man nicht gerechnet, was ihr Vorhaben erschwert hat, da sie beabsichtigt nicht zurückzukehren, ehe sie ihren Traum verwirklicht hat. Vielleicht wird der rosafarbige Kaukasusvogel bald seine Flügel ausbreiten und unter den Sonnenstrahlen umherfliegen9”.
Trotz der schwierigen Umstände, die Aizat durchleben muss, wuchs sie auf mit einer starken Entschlossenheit, die Welten des Wissens entdecken zu wollen, insbesondere in den Bereichen Literatur, Geschichte und Sprache. Diese Entschlossenheit und ihr Optimismus haben sie dazu gebracht, nach Beendigung ihres Studiums einen wichtigen Schritt zu gehen. Sie reiste in die Vereinten Arabischen Emirate und von dort nach Katar, mit dem Ziel ihren Traum zu verwirklichen. Aizat hat, obwohl sie durch den Verlust ihrer Eltern und dem schweren Beginn ihres Lebens geprüft wurde, in Doha ein Umfeld gefunden, welches sie dazu ermutigt, ihre Persönlichkeit zu stärken und ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. An dieser Stelle wird die Rolle Dohas als Ort, der neuankommenden Frauen ermöglicht, sich selbst und ihre Ambitionen zu verwirklichen, deutlich. Es ist ein Beispiel dafür, dass Städte in der Lage sein können, ein unterstützendes Umfeld zu sein, welches den Leuten dabei helfen kann, von ihren Möglichkeiten zu profitieren und ihre Selbstverwirklichung zu erreichen.
Der Roman behandelt auch Geschlechterfragen und die Herausforderungen, mit denen die Frau in östlichen und westlichen Gesellschaften gleichermaßen konfrontiert ist. Die Frau in der arabisch-katarischen Gesellschaft und auch die in Doha neuankommende arbeitende Frau erscheinen hier als Persönlichkeit, die sich selbst von den auferlegten negativen und alten kulturellen und sozialen Zwängen befreien will. Dies geschieht mit der Hilfe und Ermutigung des neuen sozialen Umfelds, in denen sie lebt. Sie beharrt bis zum Ende darauf, ihre berufliche Leidenschaft zu verwirklichen. Wir beenden den Artikel mit diesem schönen Zitat:
”In seinem Inneren trägt der Mensch ein Bild von der Welt, wie er sie zum ersten Mal erblickt hat. Seine Sehnsucht und seine Liebe zu diesem Bild bleiben in seinem Herzen und Gemüt, wo auch immer er hingeht. Aizat sehnt sich danach, dass die Frühlingsblumen auf beiden Seiten des Naryn aufblühen, der die Stadt in zwei Hälften teilt, und sehnt sich danach, den großen Syrdarja zu umarmen. Aizat wünscht sich, das Gewieher der Pferde zu hören, während sie am Fuße der Berge grasen. Sie sehnt sich nach jener sanften Brise, die der angenehme Wind von den zugeschneiten und hohen Berggipfeln trägt10”.
Quellen:
1 Shubat, Abdul-Hakim: Der Roman Aizat, Auflage 1, Deutschland, Dalil Verlag, Berlin, 2020, S. 207.
2 Ebd. S. 3
3 Ebd. S. 112.
4 Roman ”Aizat”, S. 10-11.
5 Ebd. S. 11.
6 Ebd. S. 75.
7 Ebd. S. 5.
8 Ebd.
9 Ebd. S. 166.
10 Ebd. S. 208.
Raied Aldarwish
Syrischer Forscher, Bachelor in Arabische Sprache und Literatur an der Universität Aleppo. Er hat sein postgraduales Studium an der Freien Universität Berlin abgeschlossen und den Master in Literatur erlangt. Thema seiner Abschlussarbeit war die Revolutions- und Kriegsliteratur und er führte die Realität des modernen Syriens als Beispiel an. Er ist in der Übersetzung Deutsch – Arabisch und dem Arabischunterricht für Nichtmuttersprachler aktiv. Derzeit lebt er in Deutschland leitet ein soziales Lehrinstitut, welches sich der Hilfe von Geflüchteten und Einwanderern widmet.